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       # taz.de -- Geschichte der Berliner Clubkultur: Nachts herrscht die Utopie in Mitte
       
       > Kaum war die Mauer weg, eigneten sich Künstler, Hausbesetzer, Galeristen
       > und DJs die alte Stadtmitte von Berlin an. Diese Entwicklung dauert an.
       
   IMG Bild: Der Caipirinha-Geruch stieg aus dem Keller nach oben: das Elektro in der Mauerstraße Anfang der 90er Jahre.
       
       Im Hof liegen alte Matratzen, kaputte weiße Plastikstühle, blaue Müllsäcke,
       Bretter, Autoreifen, Teppiche, Couchs, Klappstühle, Schutt, rostige Eimer.
       Die wilde Müllkippe wächst, weil die Berliner Stadtreinigung im besetzten
       Haus in der Mauerstraße 15 keinen Müll abholt. Einmal wächst der Hügel an
       der höchsten Stelle auf beinahe zwei Meter Höhe an.
       
       Wer am Wochenende ins WMF, den Club im Keller des alten WMF-Hauses gleich
       nebenan, will, muss über die Halde. Jeden Abend staken Leute über den
       Müllhaufen. Und bald stehen sie nicht nur am WMF an, sondern biegen nach
       rechts ab, um ins Sabor da Favela, auf Deutsch „Geschmack des
       Elendsviertels“, hinunterzusteigen. Im Volksmund heißt der Laden nur „der
       Brasilianer“, weil er von zwei jungen Brasilianern betrieben wird.
       
       Wer zum Brasilianer will, muss durch ein ovales Loch in der Rückwand des
       Hauses steigen. Wer den Hof gefunden, den Müllberg überquert hat und trotz
       des Hinweisschilds „Privat! Kein Zutritt für die Öffentlichkeit!“ durch den
       Mauerdurchbruch geklettert ist, hat den Übergangsritus aber erst zur Hälfte
       durchlaufen. Schreckhafte Charaktere, und es gibt immer wieder welche,
       wollen keinesfalls die dunkle, nur durch Teelichter beleuchtete Treppe ohne
       Geländer hinunter ins Dunkle steigen.
       
       Der Brasilianer ist nichts für klaustrophobisch Veranlagte. „Wir machten
       immer Witze: Wenn es hier brennt, sterben wir alle. Es gab keinen
       Fluchtweg“, sagt Raquel Eulate, die eine Weile im Haus gewohnt hat. Das
       Favela verspricht ein Abenteuer, das mehr als Unterhaltung ist.
       
       ## Kein Stuhl passt zum andern
       
       Anfangs hat das Favela nur zwei kleine Räume. Bald gibt es weitere
       Séparées, in die nur ein Tisch passt. Brotkörbe aus Bast dienen als
       Lampenschirme, die Wände sind gekalkt. Wo es Tapeten gibt, sind sie wegen
       der Feuchtigkeit im Keller an die Wände getackert. Als Dekoration dienen
       Erdnusssäcke und Rumflaschen. Der Boden ist mit Teppichresten ausgelegt.
       Das Mobiliar stammt vom Sperrmüll, kein Stuhl passt zum andern.
       
       Im September 1991 haben Ralf und Marcus den Laden aufgemacht. Sie haben
       vorher in Moskau studiert, als Stipendiaten der Kommunistischen Partei
       Brasiliens, heißt es. Wie sie nach Berlin kamen, weiß keiner genau. „Sie
       haben mir gesagt, dass sie sich nach dem Fall der Mauer Berlin anschauen
       wollten. Dann sind sie wohl geblieben, wie alle anderen auch“, sagt Raquel
       Eulate.
       
       Abgesehen von der extravaganten Szenerie, der nur wenige Orte in Berlin
       Konkurrenz machen können, ist das Favela, in dem es aus Prinzip kein Bier
       gibt, berühmt für seine Caipirinhas. Den brasilianischen Drink aus Cachaça,
       Zucker, gestoßenem Eis und im Glas zerstampften Limetten gab es vorher
       nirgends in der Stadt. Für die Gastronomen hat Caipirinha den Vorteil, dass
       er gute Gewinne abwirft.
       
       Die Herstellung ist aber relativ aufwendig, man muss Limetten schneiden und
       Eis in großen Mengen verarbeiten. Im Brasilianer ist Eis anfangs
       Mangelware, wie in den meisten Läden ohne Schanklizenz in Mitte, die es
       sich meist bei McDonald’s im Westen besorgen. Anfangs gibt es im
       Brasilianer nur einen Eiswürfel per Drink. „Sonst haben wir für die anderen
       nüscht“, wird den Gästen mitgeteilt.
       
       ## „Ihr müsst die Preise verdoppeln“
       
       Daniel Pflumm, der ein Jahr nach der Eröffnung des Favela im Erdgeschoss
       der Nummer 15 seinen eigenen Laden aufmacht, hat nur ein paar Caipirinhas
       im Keller getrunken. Daniel Pflumms Elektro liegt direkt über dem Favela.
       „Schon beim Aufschließen vom Elektro kam einem der Geruch von Caipirinha
       entgegen, da hab ich mir den ziemlich schnell abgewöhnt. Die Brasilianer
       waren nett, und ich war derjenige, der ihnen gesagt hat: Was, Caipirinha
       für eine Mark fünfzig? Ihr müsst die Preise verdoppeln, dann läuft der
       Laden.“
       
       Obwohl die Preise für die Caipirinhas seitdem ständig steigen, sind alle
       mit den Drinks zufrieden, die extrem alkoholhaltig sind. Wer im Favela mehr
       als zwei Caipirinhas trinkt, hat Mühe, die steile Treppe nach oben zu
       klettern. Auf dem Müllhaufen hinter dem Haus liegen morgens oft Betrunkene,
       die es nicht mehr nach Hause geschafft haben.
       
       Bald parkt Physikstudent Marcus seinen gebrauchten metallic-auberginenroten
       Mercedes vor dem Laden. „Die Kneipe der Brasilianer war eine Goldmine“,
       sagt Slavko Stefanoski, der im vierten Stock des Hauses gelebt hat. „Sie
       haben aber nicht viel profitiert von dem Ganzen. Was haben sie mit dem Geld
       gemacht? Sie haben es wieder ausgegeben. Marcus und Ralf waren Künstler.
       Was sie gemacht haben, war mit Geldverdienen verbunden, es war aber auch
       eine Kunstaktion.“
       
       Spätestens als Vogue über das Favela als heißesten Ort der Berliner Szene
       und Cocktail-Geheimtipp berichtet, brummt der Laden am Wochenende. Jetzt
       parken nachts auch Jaguars aus Düsseldorf vor dem Haus. Männer helfen ihren
       High Heels tragenden Begleiterinnen dabei, den Müllberg zu überwinden. Das
       tut der Atmosphäre keinen Abbruch, im Favela sind alle willkommen.
       
       ## Klassenlose Gesellschaft
       
       Nachts herrscht in Mitte die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft.
       Morgens sieht es anders aus. Dann nehmen die einen den Scheck der Eltern in
       Empfang oder gehen zur Arbeit in Ämtern und Agenturen, während die anderen
       Essen im Supermarkt klauen oder auf der Straße Möbel sammeln, um sich die
       Wohnung einzurichten.
       
       „Während die einen bis zur nächsten Party weiterschliefen, waren andere,
       mit denen man nachts noch getanzt hatte, womöglich schon dabei, das Gebäude
       zu kaufen, in dem die Party stattgefunden hatte“, schreibt die Künstlerin
       Natascha Sadr Haghighian über die Zeit nach dem Fall der Mauer.
       
       Thorsten Schilling, der aus der oppositionellen Kulturszene kommend 1990
       zum Pressesprecher des stellvertretenden Oberbürgermeisters von Ostberlin
       geworden ist, interpretiert die Entwicklung heute ähnlich: „Wir dachten,
       die besetzten Häuser und die Clubs sind Orte der Wahrheit. Das war das
       Pathos der Zeit. Der Kapitalismus hat sich zwar noch nicht so sichtbar
       durchgesetzt, aber die Kapitalisten waren genauso schnell wie die Besetzer
       und die Künstler. Durch die resultierende Gentrifizierung wird das soziale
       Gefüge Berlins brutaler. Auf der anderen Seite ist das aber auch das Gute
       an so einer Stadt: Du lebst am selben Ort, hast aber nicht das Gefühl, dass
       du am selben Ort lebst, weil es hier viele Brüche gab und einen viel
       radikaleren Austausch von Leuten als in anderen Städten.“
       
       Nach dem Fall der Mauer wurde Mitte aus einem langen Schlaf aufgeweckt. Die
       Clubs, Bars und Galerien, die hier entstanden sind, haben das Bild Berlins
       als wilde, kreative und produktive Stadt geprägt. Möglich war das, weil es
       Platz gab. Passiert ist es, weil es genügend Leute gab, die Zeit, Kraft und
       Ideen investiert haben. Heute sind die Spielräume geschrumpft. Um Zinsen zu
       tilgen und Investoren nach Berlin zu holen, hat der Senat seit der
       Wiedervereinigung im Bezirk Mitte 85 Prozent der städtischen Liegenschaften
       verkauft, lässt man Straßenland, Parks und öffentliche Einrichtungen außen
       vor.
       
       ## Heute steht hier ein Bürogebäude
       
       Im Sommer 1995 wird das Haus in der Mauerstraße 15 vom Bagger eines
       Investors demoliert. Die Behörden wissen Bescheid, schreiten aber nicht
       ein. Am nächsten Tag wäre das Gebäude in die Liste der denkmalgeschützten
       Häuser aufgenommen worden. Das groß angekündigte Botschaftszentrum, dem das
       Haus Nr. 15 mit der barocken Bausubstanz weichen muss, wird nie gebaut.
       
       Heute steht hier ein Bürogebäude. Seine Ecke ist dynamisch gerundet, als
       habe das Haus geheime Potenziale zur Fortbewegung. Die Metapher des Schiffs
       ist in den letzten Jahrzehnten gern von Architekten bemüht worden, wohl um
       Globalität, Dynamik und Mobilität zu kommunizieren. Wenn man sich die
       Geschichte von Berlin-Mitte ansieht, kann man zum Schluss kommen, dass sich
       das Maß der Experimentierfreude einer Gesellschaft umgekehrt proportional
       zum dynamischen Aussehen ihrer Bürohäuser verhält.
       
       „Wir sind damals nur für eine Weile geduldet gewesen, um ein bisschen Farbe
       in die triste Gegend zu bringen. Wir haben gespielt, Mittelstandskinder im
       grauen Stadtzentrum“, sagt Slavko Stefanoski. Ein paar Jahre nach dem
       Abriss des Hauses in der Mauerstraße 15 wird er nach Mazedonien
       abgeschoben. „Langsam wurde aus Berlin Hauptstadt. Es gab nicht mehr so
       viel Platz für freischaffende Künstler. Ich war kein Besetzer mehr“, sagt
       er, als sei das eine logische Erklärung für das Ende seines Aufenthalts in
       der Berliner Republik. „Es gab keinen Grund mehr, mich zu behalten.“
       
       24 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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