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       # taz.de -- Westliche Arzneiversuche in der DDR: „Verantwortlich sind die Staaten“
       
       > Die Pharmatests in der DDR widersprachen allen Standards, sagt
       > Weltärztebund-Chef Otmar Kloiber. Den Pharmafirmen will er aber keinen
       > Vorwurf machen.
       
   IMG Bild: Wirklich freiwillig geschluckt? Viele Medizintests in der DDR fanden wohl ohne Einverständnis der Beteiligten statt.
       
       taz: Herr Kloiber, wie Versuchskaninchen sollen 50.000 Menschen in den 80er
       Jahren in der DDR für Arzneimittelversuche westdeutscher Pharmakonzerne
       benutzt worden sein – ohne Aufklärung, ohne Einwilligung in die
       Studienteilnahme. Hat Sie diese Nachricht überrascht? 
       
       Otmar Kloiber: Mich hat weder überrascht, dass es Arzneimittelversuche im
       Auftrag westlicher Firmen gegeben hat, noch die Zahl der Teilnehmer. In den
       80er Jahren war in der BRD bekannt, dass es Forschungskooperationen mit der
       DDR gab. Diese waren auch von westdeutscher Regierungsseite erwünscht. Die
       DDR war ein technologisch wie medizinisch hoch entwickeltes Land, das
       wissenschaftliche Beiträge liefern konnte, auch wenn es technische Defizite
       gab, was die Ausstattung mit Geräten und Arzneimitteln anging.
       
       In der DDR wiederum gab es ein übergeordnetes kommerzielles Interesse, weil
       mit den Versuchen viel Geld verbunden war. Was mich erschreckt, ist die
       Behauptung, dass die Menschen dort offenbar flächendeckend nicht gefragt
       worden sein sollen. Das ist völlig inakzeptabel und widerspricht allen
       internationalen ethischen Standards, die damals übrigens auch in der DDR
       galten.
       
       Wie plausibel ist es, dass dies stattfinden konnte, ohne dass angeblich
       weder die Pharmafirmen noch die westdeutsche Regierung davon wussten? 
       
       Ich mag mir nicht vorstellen, dass die Bundesrepublik es verschwiegen
       hätte, wenn sie Kenntnis darüber gehabt hätte, dass es in der DDR offenbar
       einen so massiven Missbrauch des Staats an seinen eigenen Menschen gegeben
       hat. Auch leuchtet mir nicht ein, dass in der DDR Versuche stattgefunden
       haben sollen, die in der BRD nicht hätten stattfinden dürfen. Denn das
       hätte spätestens bei der Überprüfung der Studien durch die westdeutschen
       Zulassungsbehörden für Arzneimittel auffallen müssen – und wäre nicht
       akzeptiert worden.
       
       Die Medikamente hätten unter diesen Bedingungen nie auf den Markt kommen
       dürfen? 
       
       Natürlich nicht. Wenn Sie für ein Medikament, das Sie andernorts getestet
       haben, in Europa oder in den USA die Zulassung beantragen, dann verlangen
       die Behörden Einsicht in die Versuchsprotokolle. Diese müssen nachweisen,
       dass und wie die Einwilligung eingeholt wurde.
       
       Das war auch in den 80er Jahren schon so. Heute machen die Behörden
       zusätzlich stichprobenartige Inspektionen vor Ort. Was mich stutzig macht:
       Es hat auch in der DDR Ethikkommissionen gegeben, die auf die Einhaltung
       der Standards hätten achten müssen.
       
       Kann es in einer Diktatur überhaupt unabhängige Ethikkommissionen geben? 
       
       Es ist vermutlich eine Illusion in einem totalitären Staat. Es wird nun von
       unabhängigen Gutachtern historisch wie juristisch untersucht werden müssen,
       welche Rolle diese Ethikkommissionen tatsächlich spielten, ob und was die
       Bundesregierung wusste und was die Hersteller möglicherweise kaschierten.
       Dazu sollten Staat wie Industrie ihre Archive öffnen. In erster Linie aber
       wird es darum gehen müssen, das Versagen des DDR-Staats zu untersuchen.
       
       Und die westliche Pharmaindustrie, die von diesen Studien extrem profitiert
       hat, die trifft so gar keine Verantwortung? 
       
       Sorry, ich kann diese große moralische Keule gegen die Industrie nicht
       schwingen. Ich sehe nicht, wie man die Industrie dafür verantwortlich
       machen kann, dass in der DDR der Staat mit seinen eigenen Menschen in einer
       moralisch und rechtlich inakzeptablen Weise umgegangen ist.
       
       So wie sich die Dinge derzeit darstellen, ist hier offenbar die Zustimmung
       der Patienten vorgespielt worden. Ob die Pharmafirmen individuell die
       Möglichkeit hatten, das vor Ort zu überprüfen, ist unklar. Ich könnte mir
       vorstellen, dass das nicht so ohne Weiteres möglich war, denn man konnte
       sich weder frei bewegen noch mit jedem sprechen in der DDR.
       
       Aber die Firmen haben die Studien beauftragt! 
       
       Richtig, beauftragt. Formal zuständig für die Kontrolle und die Überwachung
       in der DDR war somit die Trägergesellschaft der DDR, die diese
       Untersuchungen durchgeführt hat – und nicht die Industrie. Heute, 30 Jahre
       später, würden wir natürlich auch von jedem einzelnen Arzt verlangen, dass
       er sich selbst ein Bild verschafft, dass die Patienten zugestimmt haben
       müssen. Damals war der Zeitgeist ein anderer.
       
       Herr Kloiber, ist es unter solchen Umständen legitim, überhaupt klinische
       Arzneimittelstudien in totalitären Staaten durchzuführen? Der Weltärztebund
       immerhin hatte ab den 60er Jahren mehreren Ärzteorganisationen aus
       kommunistischen Ländern die Mitgliedschaft verweigert. Es hieß, dass diese
       Organisationen – Stichwort Achtung der Menschenwürde – vermutlich nicht
       unabhängig von ihren jeweiligen Regimen agieren könnten. Da hätte es doch
       nahegelegen, die Industrie aufzufordern, auf Versuche in solchen Ländern zu
       verzichten. 
       
       Wir waren und sind generell sehr vorsichtig, zum Boykott aufzurufen, wenn
       es um Gesundheit und gesundheitliche Versorgung geht. Uns war bekannt, dass
       es im Ostblock keine eigenständige, wirklich leistungsfähige
       Arzneimittelentwicklung gab. Das hieß auch, dass es dort eine permanente
       Knappheit an hochwirksamen Arzneimitteln gab. Allein aus diesem Grund hätte
       sich der Weltärztebund damals schwergetan, irgendeinen Boykott zu
       empfehlen, denn für viele Menschen war die Teilnahme an Studien die einzige
       Chance, überhaupt an Medikamente zu kommen.
       
       Genau dieser Mangel führt zu Abhängigkeiten und kann Menschen unter Druck
       setzen, möglicherweise schneller und unkritischer in riskante Studien
       einzuwilligen, als sie das bei einer guten Versorgungslage mit Medikamenten
       tun würden. 
       
       Dieses ethische Dilemma existiert, übrigens nicht nur in armen Ländern. Das
       moralische Versagen allerdings liegt bei den Staaten, die ihr Geld lieber
       dafür ausgeben, gegen ihre Nachbarn einen netten Krieg zu führen. Oder,
       falls dieser Nachbar nicht zur Verfügung steht, gegen die eigene
       Bevölkerung. Es ist nicht so, dass diese Staaten – mit wenigen Ausnahmen –
       keine Möglichkeit hätten, ihr Geld stattdessen ins Gesundheitswesen zu
       investieren.
       
       Wo bleibt die soziale Verantwortung der Unternehmen? 
       
       Ich halte es für durchaus verantwortungsvoll, diese Tests weiterhin in
       Schwellenländern durchzuführen. Viele Staaten, etwa in Afrika, haben sich
       ab Ende der 70er Jahre darauf fokussiert, nur noch eine gesundheitliche
       Minimalversorgung bereitzuhalten. Für viele Menschen bedeutet das, dass sie
       im Krankheitsfall das Land verlassen müssen. Das können sich nur die
       Reichen leisten.
       
       Zugleich erleben wir eine massive Flucht von Ärzten und Krankenschwestern
       aus diesen Ländern, denn sie sind nicht bloß abgeschnitten von
       medizinischer Entwicklung, sondern können den Menschen daheim nicht helfen
       – weil da nichts zu helfen ist, wenn jemand Bluthochdruck hat, eine
       Herzerkrankung oder einen Beinbruch. In einer solchen Situation sind
       Arzneimittelstudien ausländischer Hersteller eine unglaubliche Chance.
       
       Inwiefern? 
       
       Um diese Studien seriös durchführen zu können, braucht es zunächst den
       Aufbau einer enormen Infrastruktur. Dadurch kommen viele Kliniken erstmals
       in einen vernünftigen Zustand, hygienisch wie fachlich. Davon profitieren
       auch die anderen Patienten. Was wir freilich nicht zulassen dürfen, ist,
       dass die Menschen dort einfach nur gebraucht werden als ein Mittel, um ein
       Studienziel zu erreichen, und anschließend lässt man sie allein.
       
       Das hat sich aber in den letzten zehn Jahren deutlich verbessert. Viele
       Firmen stellen den Patienten nach Abschluss des Versuchs Medikamente zur
       Weiterbehandlung zur Verfügung. Das wiederum ist ein Grund für viele Ärzte,
       in ihren Heimatländern zu bleiben. Es mag banal klingen, aber das
       Wesentliche ist: Wir brauchen die gleichen ethischen Standards hier wie
       dort. Dort vielleicht sogar noch ein bisschen strenger.
       
       21 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
       
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