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       # taz.de -- Syrien-Konflikt: Gerechtigkeit – oder Frieden
       
       > Auf Einladung der Böll-Stiftung sprach der Historiker Ignatieff über
       > Syrien. Er erklärte, warum UN-Truppen Assads Leute schützen müssen.
       
   IMG Bild: Wie schützt man Zivilisten? Das UN-Konzept der „Schutzverantwortung“ sagt: notfalls mit Waffengewalt
       
       BERLIN taz | Es gibt, sagte der Stargast gleich zu Beginn, „in Syrien
       nichts als schlechte Optionen“. Michael Ignatieff ist Historiker und
       Politiker, Kanadier und Liberaler, Wissenschaftler an vielen großartigen
       Universitäten, aktuell der Harvard-Uni in Boston – und ein Erfinder der
       „Schutzverantwortung“: der Responsibility to Protect, kurz R2P.
       
       Mit diesem immer noch holprig daherkommenden Begriff ist seit 2005
       UN-offiziell das völkerrechtliche Konzept benannt, das Staaten zu
       militärischem Eingreifen in anderen Ländern zwecks Verhinderung staatlicher
       Massenmorde verpflichten will.
       
       Ralf Fücks, Chef der Grünen-nahen Heinrich Böll Stiftung, hätte sich am
       Mittwoch kaum jemand Prominenteres in die Berliner Stiftungszentrale
       einladen können, um vor dem Hintergrund des UN-Konzepts gemeinsam über
       Auswege für den aktuellen Konflikt in Syrien nachzudenken.
       
       Wer kam, um sich eine Schüssel pragmatisch-amerikanischen Klartext
       abzuholen, wurde nicht enttäuscht. Zivilisten könnten nur mit einer
       schussbereiten Armee vor staatlichen Massakern geschützt werden, sagte
       Ignatieff. „Nichts für Pfadfinder und nichts für Blauhelme.“
       
       Die Lehre aus der UN-„Schutzzone“ Srebrenica – 1995 wurden dort unter den
       Augen der Blauhelme etwa 8.000 bosnische Zivilisten von bosnisch-serbischen
       Truppen ermordet – laute: „Fang gar nicht erst an, wenn du nicht zu kämpfen
       bereit bist.“
       
       ## Die Lehren aus Ruanda und Srebenica
       
       Wohin aber die Lehren aus Srebrenica und Ruanda, wo 1994 etwa 800.000
       Menschen abgeschlachtet wurden, nun in Syrien führen, war so klar dann doch
       nicht. Insgesamt ist internationale Politik großenteils ein Geschäft für
       Leute, die nachher alles schon vorher gewusst haben.
       
       So besteht Einigkeit über die Notwendigkeit internationalen Eingreifens oft
       erst, nachdem der Schaden unendlich groß geworden ist. Wo dagegen gemäß der
       Schutzverantwortungsidee eingegriffen wurde, werden Erfolge selten sichtbar
       und noch seltener weltweit anerkannt, erläuterte die Zeit- (und
       Ex-taz-)Redakteurin Andrea Böhm an mehreren gut gewählten Beispielen.
       
       Irak wie Afghanistan – beides keine Fälle für Schutzverantwortung, doch
       ebenfalls moralisch aufgeladen – haben die R2P-Idee diskreditiert.
       
       Auf bloß 5 bis 15, „und eher 5 Prozent“ jedenfalls bemaß Ignatieff die
       Chance, dass die USA sich mit Russland darauf einigen könnten, dass Syriens
       Präsident Baschar al-Assad nicht nur sein eigenes Land, sondern die
       Stabilität des kompletten Nahen Ostens ruiniere und „in seine russische
       Datscha“ zu schicken sei.
       
       Keine Waffenlieferungen an Rebellen, sagte Ignatieff. Es bedürfe vielmehr
       einer glaubwürdigen Drohung an Assad, dass Schlimmes mit ihm passiere, wenn
       er sich nicht an den Verhandlungstisch begebe. Dass er aber etwas retten
       könne, wenn er kooperiere.
       
       ## "Schlechte Menschen an ihrem Platz lassen"
       
       „Wir haben eine Wahl zwischen Gerechtigkeit und Frieden, und um Frieden zu
       bekommen, müssen wir schlechte Menschen an ihrem Platz lassen“, erläuterte
       er: nicht Assad selbst, aber viele seiner Leute würden im Land bleiben und
       sogar von internationalen Truppen dann geschützt werden müssen.
       
       Es blieb dem Grünen Fücks überlassen, darauf hinzuweisen, dass die syrische
       Opposition und viele westliche Staatschefs sich schon so früh großmäulig
       auf einen vollständigen Abschied von Assad festgelegt haben. Die
       Alternative aber zur Verhandlung vor einer ernst gemeinten kriegerischen
       Kulisse, sagte Ignatieff, sei der Bürgerkrieg bis zu einem furchtbaren Ende
       – nach dem Motto: „Let it burn“.
       
       Auf diesen Nenner ließ sich am Beispiel Syriens an diesem Abend die
       Schutzverantwortung bringen: mit militärischen Mitteln drohen, um eine
       politische Lösung möglich zu machen. Viele recht junge Leute im Saal der
       Heinrich Böll Stiftung schrieben mit: Der Anteil der Studierenden, die sich
       in die kaum wissenschaftlich erschließbaren Untiefen der internationalen
       Politik begeben, nimmt offensichtlich zu.
       
       Auch wenn, wie Ignatieff feststellte, die Schutzverantwortung 19 Jahre nach
       Ruanda, 18 Jahre nach Srebrenica, und 13 Jahre nachdem er selbst
       hoffnungsvoll an dem Konzept mit formuliert hat, in keinem guten Licht mehr
       steht, vielleicht gar vor ihrem Ende. „We’re not in a good place“, sagte
       er. Es klang unbehaglich.
       
       16 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Winkelmann
       
       ## TAGS
       
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