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       # taz.de -- Bürgerkriegsfolgen in Kolumbien: Ein paar Quadratmeter Sicherheit
       
       > Vier Millionen Menschen verloren im Bürgerkrieg ihr Land. Nun wagen
       > einige Vertriebene die Rückkehr in den Regenwald - mit Erfolg.
       
   IMG Bild: Die unumstrittene Matriarchin in der „Humanitären Zone“: die 72-jährige „Doña“ Maria Chaverra.
       
       LAS CAMELIAS taz | Nichts ist erfunden, alles ist genau so passiert. Darauf
       legt Heyler Santos großen Wert. Gerade deshalb fällt ihm das Singen ja so
       leicht. Wer also die Geschichte des 21-Jährigen und seiner beiden Freunde
       verstehen will, muss bloß zuhören. „Nach allem, was wir erlebt haben“, sagt
       der Afrokolumbianer, „springen die Worte wie von selbst heraus.“
       
       Heute ist die „Nacht der Erzählungen“, und weil an diesem Abend alle in dem
       kolumbianischen Dorf Las Camelias über das sprechen sollen, was sie bewegt,
       sind auch die drei Rapper mit dabei. Mikrofon, Lautsprecher und
       Röhrenverstärker haben die „Resistentes“, die „Widerständigen“, wie sie
       sich nennen, längst aufgebaut. Der Generator funktioniert, ein kleiner
       Soundcheck, und es kann losgehen.
       
       Unter dem Dach eines schlichten, aus Holz gezimmerten Hauses rappen die
       jungen Männer vor ihren Publikum vom „verfluchten Krieg“ und von „korrupten
       Politikern“. Und natürlich von den „Señores“, den paramilitärischen Banden.
       
       Jeder hier weiß genau, was gemeint ist. Alle Bewohner der
       35-Familien-Gemeinde am Ufer des Curvaradó haben erlebt, was die Rapper in
       ihren Reimen zum Ausdruck bringen. Santos war noch ein Kind, als die
       bewaffneten Männer das erste Mal kamen. Aber seine Großmutter Maria Ligia
       Chaverra erinnert sich noch genau an diese Zeit.
       
       ## Flucht in den Regenwald
       
       „Schon 1996 haben uns Paramilitärs und Soldaten bedroht, ein Jahr später
       mussten wir flüchten“, erzählt die 72-Jährige, die alle Doña Maria nennen.
       Manche gingen in die Städte, Doña Maria und ihre Angehörigen flohen erst in
       anliegende Dörfer, später in den Regenwald. „Drei unserer acht Kinder waren
       immer mit dabei“, sagt sie. Und die Enkel natürlich auch.
       
       „Sie haben uns verfolgt, weil wir angeblich der Farc-Guerilla angehörten,
       dabei waren wir nur Bauern“, erklärt Doña Maria und kichert in sich hinein.
       „Ausgerechnet ich soll eine Guerillaführerin gewesen sein.“ Erst später
       habe sie verstanden, was tatsächlich hinter der Invasion steckte, die 130
       Freunde und Angehörige das Leben kostete.
       
       Nach der Vertreibung nahmen sich Agrarindustrielle widerrechtlich das Land,
       das sie und ihr Mann im Regenwald 20 Jahre zuvor urbar gemacht hatten. So
       weit das Auge reichte, pflanzten die Unternehmer Ölpalmen. Später nutzen
       sie die Felder auch zum Anbau von Bananen. Auf den Wiesen weiden inzwischen
       etliche Rinder.
       
       Zumindest von den Palmen sind heute nur noch die vertrockneten Stümpfe zu
       sehen. Denn 2008 kehrten die Vertriebenen zurück, zerstörten die Plantagen,
       die ihren Boden auslaugten, und siedelten sich in „humanitären Zonen“
       wieder an. „Kein Zugang für bewaffnete Akteure“, steht seither auf einem
       Schild neben dem hölzernen Eingangstor von Las Camelias.
       
       ## In die alte Heimat
       
       „Ja, daran halten sich alle: die Paramilitärs, die Guerilla, die Soldaten“,
       bestätigt Santos. Rund um die Gemeinde sorgt zudem ein Zaun für Schutz. Ein
       paar Quadratmeter Sicherheit. Nach und nach versuchen die Rückkehrer, ihre
       alte Heimat zurückzuerobern, und werden dabei sogar noch von höchster Ebene
       unterstützt. 2011 verabschiedete die Regierung des Präsidenten Juan Manuel
       Santos ein Gesetz, das eine Entschädigung und die Rückgabe gewaltsam
       enteigneten Landes vorsieht. Doch so einfach ist das nicht.
       
       Außerhalb von Las Camelias beginnt das Feindesland. Im „Haus der
       Erinnerung“, das die Campesinos im Dorf eingerichtet haben, erinnert eine
       Tafel an den Aktivisten Manuel Ruíz, der mit seinem Sohn im März
       vergangenen Jahres ermordet wurde. Allein zwischen 2010 und 2011 starben in
       Kolumbien 26 Menschen, weil sie ihr Land eingeklagt hatten.
       
       Santos geht deshalb ungern allein auf das Feld, das einen halbstündigen
       Fußmarsch entfernt liegt. „Man weiß ja nie, wer einem unterwegs begegnet.“
       Erst vor ein paar Monaten wurde seine Großmutter wieder bedroht. Wer
       dahintersteckt? Die Paramilitärs, da ist sich Doña Maria sicher. „Sie
       arbeiten weiter für die Agrarindustrie, damit die Unternehmer das Land
       nicht zurückgeben müssen.“
       
       Dass es ausgerechnet sie trifft, verwundert Maria Chaverra nicht. Schon
       lange lebt sie mit der Gefahr, schließlich gehörte sie zu den Ersten, die
       zurückkamen. Gemeinsam mit Aktivisten der Ökumenischen Kommission „Justicia
       y Paz“ eröffnete sie die „humanitäre Zone“ Las Camelias. Hier ist sie die
       unumstrittene Matriarchin, die jeden Morgen bei den Familien vorbeischaut
       und nach dem Rechten sieht.
       
       ## Auf nach Bogotá
       
       Nun unternimmt die agile 72-Jährige mit den etwas müden Augen auch noch
       eine anstrengende Reise. Mit ihrem Enkel und 14 weiteren Dorfbewohnern
       fährt sie nach Bogotá, um an einer Demonstration zur Unterstützung der
       Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Farc teilzunehmen.
       
       30 Stunden quält sich der Bus aus dem Departement Chocó nahe der Grenze zu
       Panama bis in die Hauptstadt. Zunächst durch Bajirá de Belén, wo
       Paramilitärs die Straßen kontrollieren, vorbei an großen Rinderfarmen und
       etlichen Bananenstauden, dann auf den Serpentinen der Kordilleren über
       Medellín nach Bogotá.
       
       Schon vorher weiß Doña Maria, dass ihr die Knochen noch Tage danach
       schmerzen werden. Doch was soll’s. „Ohne Friedensabkommen wird es auch für
       uns keinen Frieden geben.“ Frieden, das heißt für die Unnachgiebige:
       Sicherheitsgarantien, Reparationszahlungen, die Rückgabe des geraubten
       Landes. Und dass die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen
       werden.
       
       Konflikte wie der in Doña Marias Heimat spielen beim Friedensdialog eine
       zentrale Rolle. Die Farc-Guerilla hatte darauf gedrängt, dass Landrechte
       und Agrarreform ganz oben auf der Agenda stehen. Seit die Verhandlungen in
       November begonnen haben, sprechen die Unterhändler deshalb über
       kleinbäuerliche Wirtschaft, die Rolle der Agrarindustrie und die Zukunft
       der 4 Millionen, die von ihrem Boden vertrieben wurden. Nicht zuletzt
       deshalb nehmen Zigtausende aus den ländlichen Regionen an der Demonstration
       teil.
       
       ## Weg durch die Massen
       
       Bogotá. Es ist ein anstrengender Weg vom Parque Nacional zur Plaza Bolívar.
       Meter für Meter schieben sich Heyler Santos, seine Großmutter und die
       anderen aus Las Camelias voran, fünf Stunden lang drängeln sie sich an
       diesem Apriltag zwischen Gewerkschaftern, traditionell gekleideten
       Indigenen und trommelnden Studenten durch die Innenstadt. In ihrer
       türkisfarbenen Hose und mit ihrer bunten Ledertasche kämpft sich Doña Maria
       durch die Massen, die Strapazen der Fahrt scheinen plötzlich vergessen zu
       sein.
       
       Rapper Heyler denkt indes darüber nach, wie er die Demonstration in seinem
       nächsten Song würdigen könnte. „Für einen Frieden im Chocó“ steht auf
       seinem T-Shirt. Und: „Marcha Patriótica“ – der Name des Bündnisses, das zu
       dem Protestmarsch aufgerufen hat. Die Linken wollen Druck machen und können
       mit großem Zuspruch rechnen. Nach einer jüngst veröffentlichten Umfrage
       unterstützen 63 Prozent der Bevölkerung den Dialog.
       
       Auch Padre Alberto Franco ist vorsichtig optimistisch. Der Missionspriester
       leitet die Ökumenische Kommission „Justicia y Paz“, deren Büro in der Nähe
       der Demonstrationsroute liegt. Doña María und der 53-jährige Geistliche
       haben schon einige Kämpfe am Curvaradó zusammen ausgefochten.
       
       Wenn es nach dem Priester ginge, sollten humanitäre Zonen wie Las Camelias
       zum Vorbild einer künftigen Agrarpolitik werden. Der Schutz des Lebens und
       der Biodiversität sowie die Ernährungssouveränität müssten überall im
       Vordergrund stehen. „Wenn sich die Monokultur durchsetzt, verschwinden die
       anderen Pflanzen, und die Menschen in den Gemeinden enden als bloße
       Subjekte des Marktes“, sagt der Padre.
       
       ## Schüsse aufs Auto des Priesters
       
       Vor dem Gebäude von „Justicia y Paz“ stehen drei Wagen mit verdunkelten
       Scheiben. Mehrere Männer und ein hoher, weißer Metallzaun schützen die
       Menschenrechtler. Schließlich werden die Aktivisten regelmäßig angegriffen.
       Zuletzt im Februar, als Unbekannte auf das Auto des Priesters schossen. Der
       Padre hatte zuvor die alten Mächte um die Agrarunternehmer im Chocó
       öffentlich dafür verantwortlich gemacht, dass die Rückgabe des Landes in
       Las Camelias nicht vorangeht.
       
       Doña María und ihr Enkel sind unterdessen ans Ufer des Curvaradó
       zurückgekehrt. Dort wartet eine Überraschung auf die 72-Jährige. Beamte
       haben einen Wagen samt Fahrer gebracht – eine Schutzmaßnahme, die
       Aktivisten seit Langem von der Regierung gefordert haben. Der weiße Kombi
       steht nun unter einem ausladenden Mangobaum.
       
       Heyler Santos und seine Freunde putzen ihn wie wild, als gelte es, einen
       Schönheitswettbewerb zu gewinnen. Spannend sei es in Bogotá gewesen, findet
       der Rapper. Dennoch ist er glücklich, wieder zu Hause zu sein. Hier kann er
       die Felder mit Reis bestellen, mit Freunden Fußball spielen und mit seinen
       Jungs am neuen Raps arbeiten. „Ich hoffe von ganzem Herzen, dass es endlich
       Frieden gibt“, sagt er. Denn vom „Kämpfen, kämpfen, kämpfen“, wie es einer
       seiner Songs fordert, hat auch Heyler genug.
       
       15 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf-Dieter Vogel
       
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