URI: 
       # taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Alles anders, alles gleich
       
       > Vor drei Jahren wurde das Tempelhofer Feld geöffnet. Keine Straße hat
       > sich seitdem radikaler gewandelt als die Okerstraße. Statt einer „Task
       > Force“ gibt es heute Burritos und Web-2.0-Arbeitsplätze.
       
   IMG Bild: Jetzt neu in der Okerstraße: studentisches Kneipenpublikum.
       
       „Geht der Fernseher?“, fragt der Sakkoträger, als er an Marina Kremlevskaja
       vorbeigeht. „Klar, Leinwand auch“, antwortet die Frau mit den rot gefärbten
       Locken. Der Mann nickt zufrieden und schiebt sich am Bierfass vorbei, das
       ein Stehtisch ist, ins Dunkel des Becherecks.
       
       Kremlevskaja lacht. „Ja, und ’Tatort‘ zeigen wir jetzt auch noch.“ Die
       forsche 42-Jährige sitzt mit drei Gästen vor ihrer Eckkneipe, bei Sekt und
       Zigaretten. Der Sonntagabend wärmt noch. „Es ist nicht mehr wie vor 15
       Jahren“, sagt Kremlevskaja. „Man muss sich anpassen.“
       
       Sie passt sich an: Die gebürtige Russin gehört zu denen in der Okerstraße,
       die schon da waren, als hinterm Ende der Straße noch Flugzeuge in Tempelhof
       aufsetzten. Vor acht Jahren hat Kremlevskaja das Bechereck übernommen,
       anfangs im 24-Stunden-Betrieb. Drinnen verdüstern noch immer Topfpflanzen
       die Fenster, viel dunkles Holz, die Stammgäste eher altgedient. Aber nicht
       mehr nur.
       
       Vor ein paar Monaten hat Kremlevskaja den Lagerraum ausgebaut. Ein paar
       Sessel und ein Kickertisch stehen jetzt vor unverputzten Wänden. Im
       Nebenraum wartet ein DJ-Pult auf den Mittwoch, da gibt’s jetzt Electro im
       Bechereck. „Feinster Kneipentechno“ in „urigem Charme“, preisen die
       Partymacher auf ihrer Facebook-Seite an. Kremlevskaja schmunzelt darüber.
       Die Freude über das Experiment ist ihr anzusehen.
       
       Keine 600 Meter ist die Okerstraße lang, von der aufgewühlten Hermannstraße
       bis zum weiten Grün des Tempelhofer Feldes. Noch vor ein paar Jahren genoss
       kein Straßenzug im Schillerkiez einen schlechteren Ruf: ein paar Eckkneipen
       und Spätis, sonst Leerstand, Arbeitslosigkeit, Sperrmüll auf dem
       Bürgersteig und drumherum spielende Kinder. Drei „Problemhäuser“ ortete das
       Quartiersmanagement: von den Eigentümern vernachlässigt, übervermietet an
       Roma. Dazu eine „feste Trinkerszene“. Der Bezirk setzte eine „Task Force
       Okerstraße“ ein. Das war 2009, da gab es den Flughafen noch.
       
       ## Ende einer „Task Force“
       
       Dann, drei Jahre war es am 8. Mai her, eröffnete die Wiese. Heute kann man
       in der Okerstraße Burritos kaufen, Malereien und Focaccia. Gleich drei
       Szenekneipen haben eröffnet. Es gibt „free WLAN“ und „Open Stages“. Die
       „Task Force“ ist eingestellt.
       
       Gleich vorne in der Okerstraße sitzt Valentin Abe in einem fast leeren
       Ladenraum, den Laptop auf einem schlichten Holztisch. „D-Collective“ steht
       an der Scheibe. Früher war hier der „Agri Grill“: „stadtweite Kontaktbörse“
       für Roma, schrieb das Quartiersmanagement 2009. Seit November ist es der
       erste Co-Workingspace in der Okerstraße.
       
       Abe sagt diese Vorgeschichte nichts. Man baue noch Kontakt zu den Nachbarn
       auf, erzählt der junge Mann – graues Shirt, gestutzter Bart, Sneakers –,
       als er durch die Räume führt. An den weißen Wänden hängen Klebezettel, in
       der Ecke stehen ein Skateboard und eine Gitarre. Zu zehnt arbeite man hier:
       Designer, Programmierer, Kultur- und Marketingleute. Gearbeitet werde
       gemeinsam, jeder bringe sein Fachwissen ein. Abe spricht von „shared
       knowledge“ und „sustainability“. Eine neue Sprache kehrt in der Okerstraße
       ein.
       
       „Die Zwei-Punkt-Nuller“, sagt Benny vom Frollein Langner über die neuen
       Nachbarn. Der Mittzwanziger meint das ganz wertfrei. Er verstehe sich gut
       mit den Neuankömmlingen. „Ich find’s cool, das belebt die Ecke.“
       
       Das „Frollein Langner“ war die Vorhut der neuen Okerstraßen-Generation.
       Kein Jahr nach der Felderöffnung, im März 2011, eröffnete Benny mit zwei
       Kumpels die Kneipe. „Mehr so als Freundschaftsprojekt.“ Zufällig seien sie
       auf den leeren Eckladen gestoßen, einst ein Spielcasino. Den Tresen
       schenkte ihnen ein Bekannter, die Kaffeemaschine auch. „Das Feld“, erzählt
       der ruhige Lockenkopf, „kannte ich da noch gar nicht.“
       
       Heute ist das Langner fast immer voll, man trinkt Bier auf alten Sofas, es
       gibt Konzerte und Onigiri. Und seit kurzem ein zweites Standbein: Nebenan
       dringt das Schmatzen heißen Fetts auf den Gehweg. Im „Rundstück, warm“ brät
       ein mexikanischer Freund der Frollein-Langner-Macher Burger und Burritos.
       Ein Jahr lang, sagt Benny, habe man an dem Laden gearbeitet. „Immer wenn
       Geld und Zeit da war.“
       
       Spätestens am Abend übernehmen die Neubewohner mit studentischem Einschlag
       die Okerstraße. Dann gibt es Jam Session im Keller des Siouxie, einst eine
       Pizzeria. Wird im BruchBerg, früher die Teufelchen-Bar, aufgelegt. Träufelt
       man sich im Zio Felix, dem alten Sanitärbüro, Chili-Öl auf die Pizza und
       trinkt Weißwein. Im alten Hoffmanns-Minimarkt, früher laut
       Quartiersmanagement zentraler „Trinkertreff“ im Kiez, wird jetzt Kunst
       gemacht. Und in der alten Polsterei stehen Keramikvasen im Schaufenster,
       eiergroß, à 18 Euro.
       
       Gänzlich verschwunden ist das Alte nicht. Im Frollein Langner trinkt an
       diesem Abend auch ein Rentner in Gartenschlappen seinen Kaffee. Gegenüber,
       im Savo, gibt’s weiter Futschi, also Cola mit Weinbrand. Vor dem Aldi, an
       der Ecke zur Hermannstraße, verkauft eine Osteuropäerin mit Baby den
       Straßenfeger. Eines der „Problemhäuser“ ist saniert, im Hinterhof wachsen
       Tulpen. Daneben aber sind im Erdgeschoss die gesprungenen Scheiben mit
       Paketband geklebt.
       
       Ein paar Meter weiter sitzt Salih Cakif auf einem Stuhl auf dem Bürgersteig
       und blickt auf seinen kleinen Trödelladen, der ohne Schild auskommt.
       Blumentöpfe, Stehlampen, Kinderwagen. Zwei Jahre sei er jetzt hier, erzählt
       der Deutschtürke mit Schnauzbart und Halbglatze: „Was dazu verdienen zur
       Rente.“ Neulich hätten sie auch seine Miete erhöht, um 60 Euro. Cakif
       schüttelt den Kopf. „Ein Fassadenanstrich und schon geh’n die hoch.“ Dabei
       habe er weiter nicht mal eine Heizung im Laden. „Im Winter friert’s mir den
       Arsch ab.“
       
       Ungerührt beschaut Cakif die Straße und zieht an seiner Zigarette. Auch als
       eine Frau lauthals mit seinem Mitarbeiter über eine zurückgegebene
       Waschmaschine zu streiten anfängt. Hört man die Geschichten des früheren
       Betonfachmanns, wirkt die Aufwertung wieder fern. Dann berichtet Cakif von
       Bulgaren, die immer noch zu sechst in einer Einzimmerwohnung lebten. Von
       der verzweifelten Suche nach Arbeit und Schulden, die mit Prügel
       eingetrieben würden.
       
       Cakif zeigt auf einen älteren, schlaksigen Mann in blauer Trainingsjacke.
       „Roma“, sagt er. Der Mann habe ihm gerade geholfen, einen Kühlschrank
       abzutransportieren. Viele versuchten so etwas dazuzuverdienen. Zu viele.
       „Das ist Mist“, findet Cakif, „erst nehmen sie den Ostblock in die EU auf,
       dann lassen sie die Leute ohne Arbeit und Wohnung.“
       
       Glaubt man Nilgün Hascelik, dürfte es das hier gar nicht mehr geben. Kaum
       jemand hat den Wandel in der Okerstraße mehr mitgestaltet als die SPDlerin.
       Hasceliks Sozialverein führte bis Ende letzten Jahres die „Task Force
       Okerstraße“.
       
       Als Vorzeigeprojekt feierte der Bezirk die 2009 eingesetzte Maßnahme.
       Erstmals saßen Jugendamt, Polizei und Quartiersmanagement an einem Tisch.
       Nachlässigen Eigentümern wurde das Ordnungsamt vorbeigeschickt, über
       „Problemfamilien“ wurde beraten. Meist waren es Roma und „Trinker“. Die
       linke Szene sprach von Diskriminierung, einer „Kriegserklärung“.
       
       Nilgün Hascelik übernahm 2011 das Projekt. Ihr Vorgänger war gekündigt
       worden. Wegen falscher Abrechnungen, so der Bezirk. Weil man keine
       sensiblen Sozialdaten weitergeben wollte, so der Träger. „Wir haben Daten
       nur anonymisiert weitergegeben“, betont Hascelik gleich zu Beginn in ihrem
       Büro. Weiße Wände, ein bisschen moderne Kunst. Die Enddreißigerin mit den
       roten Ohrringen spricht mit sachter Stimme, aber ernstem Blick. Hascelik
       ist weiterhin von der „Task Force“ überzeugt. Viele Familien hätten endlich
       die Hilfe bekommen, die ihnen zustand. Kinder seien beschult worden,
       Räumungsklagen abgewendet. Die Okerstraße, sagt Hascelik, sei heute „ein
       bisschen sicherer, man grüßt sich“.
       
       Tatsächlich wurde die „Task Force“ Ende 2012 für beendet erklärt. Seitdem
       macht Hascelik nur noch Sozialberatung. „Zu allem, was die Leute in ihren
       Briefkästen finden.“ Das, sagt sie, werde hier auch weiter gebraucht.
       
       ## Weniger Hunde, weniger Arbeitslose
       
       Marina Kremlevskaja vom Bechereck ist zufrieden mit der neuen Okerstraße.
       „Lebendiger, sauberer“, sei es geworden, erzählt sie zwischen den Zügen an
       ihrer Zigarette. Und mit den jungen Leuten, den Spaniern und Italienern,
       auch „freundlicher, toleranter“. Es gebe weniger Hunde, weniger
       Arbeitslose.
       
       „Was bitte ist besser geworden?“, platzt es da aus ihrem Tischnachbarn
       heraus, einem älteren Migranten. Auch die Studenten lebten doch vom Staat,
       poltert er. Die Mieten stiegen, es gebe Zwangsräumungen. „Jetzt entscheiden
       die mit Geld, wer hier noch wohnen darf.“ Kremlevskaja sagt noch, dass man
       sich ja juristisch wehren könne. Doch ihr Gast ist nicht zu beruhigen.
       „Nichts ist besser geworden“, schimpft er, greift seinen Motorradhelm und
       geht. Kremlevskaja zieht die gezupften Augenbrauen hoch, zieht an ihrer
       Zigarette. Sie bleibt sitzen. Gleich kommt der „Tatort“.
       
       15 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
   DIR Migration
   DIR Neukölln
   DIR taz.gazete
   DIR Gentrifizierung
   DIR Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
   DIR Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
   DIR Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR taz-Serie Schillerkiez: Gentrifizierung? Gar nicht so schlecht!
       
       Es gehört quasi zum guten Ton, über Verdrängung aus Szenevierteln zu
       schimpfen. Gerade die Migranten sollten das tun, denkt der Mehrheitsmensch
       – und irrt.
       
   DIR taz-Serie Schillerkiez: Bebauung? Nein danke!
       
       Die meisten Bewohner des Schillerkiezes wollen den Status quo des
       Tempelhofer Feldes erhalten.
       
   DIR Neukölln als Zentrum für Kunst: Braukunst der Gegenwart
       
       Ein Schweizer Ehepaar baut die alte Kindl-Brauerei in Neukölln zum Zentrum
       für zeitgenössische Kunst um. Was macht das mit dem Kiez?
       
   DIR Orte des Rausches: Es gibt ein Entkommen
       
       Uns fehlen Orte des Rauschs, in denen frei erkundet werden kann, was
       möglich ist. Ein Appell zur drohenden Räumung des Autonomen Zentrums in
       Köln.
       
   DIR taz-Serie Schillerkiez: Pizzen verdrängen Policen II
       
       In der Herrfurthstraße 8 hat Orhan Daldeniz viele Jahre Versicherungen
       verkauft. Doch die Miete wurde zu teuer. Nun bietet Antonio Vigner dort
       Pizzen an. Die taz hat beide getroffen.
       
   DIR taz-Serie Schillerkiez: Pizzen verdrängen Policen I
       
       In der Herrfurthstraße 8 hat Orhan Daldeniz viele Jahre Versicherungen
       verkauft. Doch die Miete wurde zu teuer. Nun bietet Antonio Vigner dort
       Pizzen an. Die taz hat beide getroffen.
       
   DIR taz-Serie Schillerkiez: Weg vom Milieu, weg vom Klischee
       
       Julia Seedler und Andreas Umpfenbach haben fünf Doku-Kurzfilme über den
       Schillerkiez gemacht. Es geht um Helden, die sich beharrlich für ihr
       Viertel engagieren.