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       # taz.de -- Echt krank oder normal verrückt: Wo fängt irre an?
       
       > Was einer als Stimmungsschwankung abtut, definieren andere als Störung.
       > Die Zahl der Diagnosen wächst. Irrsinn, sagt ein Psychiater.
       
   IMG Bild: Die Zahl der psychiatrischen Diagnosen wächst. Und damit auch die der Leute, die Pillen nehmen
       
       Als der Psychiater Allen Frances noch jünger war, hat er einmal
       vorgeschlagen, eine neue Klassifikation in den Katalog der psychiatrischen
       Krankheiten aufzunehmen: die masochistische Persönlichkeitsstörung. „Sie
       sollte für Menschen sein, die selbstzerstörerische Dinge tun“, erinnert
       sich der emeritierte Professor von der Duke University in North Carolina,
       den die New York Times den einflussreichsten Psychiater in der USA nennt.
       
       Als Frances dann später selbst für das System verantwortlich war, das die
       psychiatrischen Störungen in den USA bestimmt, und sie alle paar Jahre in
       einem Psychiatrie-Handbuch namens DSM festlegt, da habe er Nein gesagt.
       „Auf gar keinen Fall“, sagt Frances. So eine masochistische Störung solle
       darin nicht aufgenommen werden. Sie würde Menschen schaden. Denen nämlich,
       die damit fälschlich als krank abgestempelt werden.
       
       Der Psychiater hat mittlerweile die 70 erreicht. Und jetzt, wo die fünfte
       Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, die
       Bibel der Psychiater-Zunft in den USA, erscheint, bekriegt er sie
       regelrecht. Obwohl er die Vorgängerversion selbst noch verantwortet hatte.
       
       ## Gefährlicher als Medikamente
       
       „Neue Diagnosen sind gefährlicher als neue Medikamente“, sagt Frances in
       der taz.am wochenende. Denn seien sie erst einmal in der Welt, würden sie
       auch aktiv diagnostiziert werden. So wächst die Zahl der krank gelabelten,
       derer mit Stigma. „Bevor eine neue Diagnose eingeführt wird, sollte sie
       eigentlich den gleichen Tests unterzogen werden wie neue Medikamente.“
       
       Ende Mai erscheint dieses neue Handbuch der Psychiatrischen Störungen.
       Psychiater überall auf der Welt, auch in Deutschland, haben jahrelang darum
       gerungen, welche neuen psychiatrischen Krankheitsbilder darin eingeführt
       werden sollen, (und wie die alten neu definiert werden). Es ging
       beispielsweise um die Frage, ob eine Kategorie wie „Psychoserisiko“
       gebraucht wird. Würde es sie geben, könnten Teenager schon während der
       Schulzeit mit einem Label versehen werden, das ihr ganzes Leben verändert.
       
       Da wäre dann der Junge, mit dem man besser ein bisschen vorsichtig umgeht.
       Es könnte ja sein, dass...
       
       Oder das Mädchen, das sich, na klar, ein wenig komisch verhält gerade. Man
       weiß ja auch, woher das kommt.
       
       ## Veränderte Leben
       
       Psychiatrische Diagnosen können Leben verändern. Und sie können der
       Pharmaindustrie erhebliche Gewinne sichern. Denn deren Entwickler sehen
       jedes weitere Handbuch sehr genau darauf durch, zu welcher neuen Störung
       ein Medikament passen würde.
       
       Die Befürworter des Psychiatrie-Standardwerks sehen in all den neuen
       Störungen nicht nur eine Gefahr: Der Diagnoseschlüssel werde damit auch
       feiner, sagen sie. Und helfen feinere Diagnosen nicht den Patienten?
       
       Ist es nicht außerdem so, dass viele heutzutage regelrecht nach Diagnosen
       verlangen? Auch die, die gar nicht wirklich psychisch krank sind. Wir haben
       den Eindruck, irgendetwas stimmt nicht mit uns und würden das gern benennen
       können. Wir suchen nach einem Label für unsere Probleme, wir googlen nach
       Diagnoseschlüsseln. Wir wollen das doch auch. Oder?
       
       Alles Quatsch? Man sollte froh sein, wenn es einem halbwegs gut geht?
       Schließlich blockieren die eingebildeten psychisch Kranken nur die Plätze
       in den Arzt-Praxen, die die wirklich Depressiven bräuchten – wie der
       Psychiater Allen Frances kritisiert? Und hat er nicht recht? Schafft diese
       Diagnosewut viel zu viele unsinnige Behandlungen, die keiner bräuchte – die
       vielleicht sogar schaden?
       
       Was meinen Sie? Diskutieren Sie hier auf taz.de.
       
       Die Titelgeschichte „Wo fängt irre an?“ lesen Sie in der neuen [1][taz.am
       wochenende vom 11./12. Mai 2013].
       
       10 May 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://bit.ly/17vqaM6
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maria Rossbauer
       
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