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       # taz.de -- Fabrikeinsturz Bangladesh: Zahltag für die Überlebenden
       
       > Am eingestürzten Rana Plaza werden immer noch Leichen geborgen. Viele
       > FabrikarbeiterInnen warten auf ihre Entschädigung.
       
   IMG Bild: Der Näher Milon und die Nachbarstochter hoffen auf Entschädigung.
       
       SAVAR taz | Dreizehn Tage nach dem Einsturz hat sich das Leben vor dem Rana
       Plaza verlangsamt. Jetzt geht es nicht mehr darum, Menschenleben zu retten,
       sondern den Schutt abzutragen. Möglichst behutsam, um die darin verwesenden
       Leichen möglichst unbeschadet zu bergen. Von der Moschee gegenüber des
       eingestürzten Hauses klingen pausenlos Suren herrüber. Polizisten sitzen
       zusammen unter einer Plane, sichtlich gelangweilt.
       
       Die Kleinstadt Savar besteht vor allem aus einer vierspurigen Hauptstraße
       und kleinen Nebenstraßen und Gassen. Häuser und Geschäfte sind klein und
       die Gebäude selten höher als zwei Stockwerke. Das Rana Plaza mit acht
       Stockwerken war eines der größten - nun ist es ein Schutthaufen.
       
       Die Armee, die hier das Sagen hat, hat eine Seite der Hauptstraße für die
       Bergungsarbeiten gesperrt. Auf den anderen zwei Spuren drängeln sich Busse,
       Autos, LKWs und Fahrradrikschas. Auf der gesperrten Seite fährt plötzlich
       ein überdeckter LKW los: in roter Schrift steht vorne „Kostenlose
       Leichenbeförderung“. Ein süßlicher Geruch, manchmal kaum bemerkbar,
       manchmal unerträglich durchdringend, hängt in der Luft.
       
       Auf der anderen Straßenseite dürfen Schaulustige stehen. Unter den mehreren
       Dutzend sind auch vier Männer, die kurz innehalten, bevor sie in der
       schwülen Maihitze weiterlaufen. Zwischen den vorbeifahrenden Bussen blitzen
       zwei gelbe Bagger auf, die auf dem Haufen hoch und runter fahren, immer
       wieder schaufeln sie Bauschutt und Stofffetzen in einen ebensogelben
       Container. Und manchmal tragen Feuerwehrleute die Leichen in weißen Tüchern
       herunter.
       
       „Ich habe heute schon zwei gesehen.“ „Die haben heute schon zwanzig
       rausgeholt, hab ich gehört.“ „Hast du sie dir mal angeschaut? „Ein Graus.“
       „Was erwartest du? Nach dreizehn Tagen.“
       
       ## Näher Milon ist jetzt arbeitslos
       
       In einer der Nebenstraßen wohnt Milon, gekleidet in einem graublauen
       T-Shirt und einem Lungi-Rock. Im Rana Plaza arbeitete er im dritten Stock
       als Näher. Heute nehmen wir seinen Weg nach Hause, den Weg, den er bis Ende
       April anderthalb Jahre lang gegangen ist.
       
       Von der gepflasterten Straße kommt man auf eine ungepflasterte Straße,
       läuft an einem leeren Grundstück vorbei und zum Trakt, wo Milon mit seiner
       Familie wohnt. Durch die Mitte verläuft ein schmaler zementierter Hof, von
       dem man in sieben Ein-Zimmer-Wohnungen gelangt. Vier auf der einen Seite,
       drei auf der anderen. Küche und Klo werden gemeinsam genutzt.
       
       Milons Wohnung ist etwa 14 Quadratmeter groß. Er wohnt hier mit seiner
       ganzen Familie: seiner Frau, seiner sechsjährigen Tochter und seinem
       zweijährigen Sohn. Das Zimmer ist mit einem Doppelbett fast vollgestellt.
       Dazu eine Kommode, ein Kühlschrank und zwei Stühle. Viel Platz zum sitzen
       oder stehen ist nicht. Milon hat alleine verdient: 2.900 Taka Grundlohn,
       dazu 1.800 Taka für Überstunden. Insgesamt 47 Euro. Dafür hat er täglich
       mindestens zehn Stunden gearbeitet, im Ausnahmefall gab es einen freien Tag
       pro Woche.
       
       ## Die Erinnerung, der Schock
       
       Alle, die an diesem verhängnisvollen 24. April im Rana Plaza arbeiteten,
       können sich an zwei Dinge erinnern: was sie gemacht haben, als das Gebäude
       einstürzte und wann sie gerettet wurden. Um 8:45 fällt der Strom aus, die
       Generatoren werden gestartet und ihre Vibrationen geben dem Haus, an dem
       schon am Vortag Risse entdeckt worden waren, den Rest.
       
       Die Arbeiter merken wie die Säulen nachgeben und rennen um ihr Leben. „Ich
       bin auf die Knie gefallen und mir fiel Schutt auf den Kopf und auf die
       Hand“, erzählt er. Jedes Mal, wenn er die Geschichte erzählt, spielt er die
       Szene nach: geht auf ein Knie, hebt den einen Arm, zeigt auf die Narben am
       Kopf und auf der Hand.
       
       Im umherfliegenden Staub bekommt er kaum Luft. Mit einem Handy leuchtet er
       um sich, sieht zahlreiche Leichen und ein halbes Dutzend Überlebende. Sie
       müssen bis zum Abend ausharren. Die Luft wird knapp und sie atmen reihum
       aus einem Karton. Dann brechen Soldaten durch eine der Wände, durch ein
       Loch können sie heraus. Aus dem Armeekrankenhaus, in dem er eine Nacht
       liegt, wird er am nächsten Tag entlassen, weil er nur leicht verletzt ist.
       Zuhause wird er dennoch krank, vor Erschöpfung und Schock und liegt mehrere
       Tage im Bett.
       
       ## Dokumente für die Entschädigung
       
       Auch Milons Schwester und Bruder arbeiteten in der Fabrik und seine Freunde
       hat er unter Fabrikarbeitern gefunden. Für die Nachbarstochter setzte er
       sich beim Vorarbeiter ein, auch sie bekam einen Job. Sie alle stehen nun in
       dem Zimmer und halten nacheinander ihre Fabrikausweise oder
       Krankenhauspapiere vor. Dokumente sind jetzt wichtig, denn es soll
       Entschädigung geben.
       
       So hat es die Premierministerin versprochen, so hat es der Verband der
       Bekleidungsexporteure (BGMEA) versprochen. Doch glauben tut das niemand.
       „Ich glaub's erst, wenn ich das Geld in der Hand habe“, ruft Milon, „Es
       wird viel gesagt und geschrieben, aber hier kommt am Ende nichts an.” Am 7.
       Mai soll es ausgezahlt werden, habe es gehießen. Heute, also. Aber bisher
       wisse niemand von irgendetwas. Die anderen nicken.
       
       Am frühen Nachmittag kommt der Anruf. „Onkel Malek sagt, sie verteilen die
       Löhne“, ruft Milons Bruder. „Auf dem Feld neben der Kaserne.“ Der Unglaube
       ist verflogen: Milon streift sich eine Hose über und die Gruppe läuft zur
       Hauptstraße. Hier schleichen die Busse durch die gesperrte Straße und man
       kann einfach aufsteigen. Für die zehn Kilometer Fahrt zahlen sie je fünf
       Taka, fünf Cent.
       
       Auf dem Sportfeld des Militärs haben sich Hunderte TextilarbeiterInnen
       versammelt. Es geht bunt zu, in gelb- grün- und orangetönen. Die Frauen
       tragen alle den traditionellen Salwar-Kamis, ein langes Hemd und Hosen. Die
       Männer tragen Bundfaltenhosen und T-Shirts. Das Feld ist umzäunt und herein
       kommt nur wer einen Fabrikausweis und Krankenhauspapiere oder eine
       Pressekarte besitzt.
       
       ## Geld für die Überlebenden
       
       Hier steht Nasrin, eine 25jährige Näherin aus dem 8. Stock, die von ihren
       Vorarbeitern am Unglückstag zum arbeiten gedrängt wurde. Kurz nach
       Arbeitsbeginn habe es einen lauten Knall gegeben und der Boden sei
       abgesackt, als würde man Fahrstuhl fahren. Die Nähmaschinen hätten die
       Decke hochgehalten, so dass sie und fünf andere noch liegen oder sitzen
       konnten. Zwei Stunden später seien sie gerettet worden.
       
       Rashida, eine Helferin aus dem 3. Stock, hat das Unglück nicht überlebt.
       Ihr Bruder Schorol ist gekommen, hat ihren Arbeitsvertrag und eine
       Geburtsurkunde dabei. Seine Schwester hat er eine Woche nach dem Einsturz
       wiedergesehen, als ihre Leiche geborgen wurde. Er habe einen Krankenwagen
       gebucht, um sie ins Dorf zu bringen, im Nordosten von Bangladesch.
       Kostenpunkt: 14.000 Taka, 140 Euro. Weil er tagelang nicht zur Arbeit ging,
       hat er seinen Job verloren.
       
       Die Löhne werden vom Verband der Textilexporteure (BGMEA) ausgezahlt,
       schließlich sind die Fabrikbesitzer in Haft. Ein Mann mit orangefarbenem
       Helm und Megafon gibt durch: Hier wird es nur Geld für Überlebende geben,
       das Geld für Vermisste wird vorerst zurückgehalten und das Geld für Tote an
       anderer Stelle vergeben. Noch ist das Geld aber nicht da, und die Männer
       vom BGMEA versuchen vergeblich die ArbeiterInnen in geordnete Schlangen,
       nach Fabrik und Abteilung zu bringen.
       
       ## Misstrauen trotz Ankündigung
       
       Der Chef des Wohlfahrtskomitees des BGMEA ist ein dicker, bärtiger Mann mit
       weißer Mütze – die äußeren Zeichen muslimischer Frömmigkeit – erklärt, was
       die Arbeiter erwarten können: Gehalt für den April, ein Monatsgehalt pro
       Arbeitsjahr und vierzig Tage Urlaubsgeld. Die anwesenden Gewerkschafter
       nicken: das entspricht dem Gesetz. Sie hatten befürchtet, dass es nur das
       Aprilgehalt geben würde – das hätten die Arbeiter abgelehnt.
       
       Auch Milon scheint zufrieden. Er steht in einer der Schlangen und rechnet
       nach, dass ihm vier Arbeitsgehälter zustehen, wenn die anderthalb Jahre
       Arbeit auf zwei aufgerundet werden. „Warten wir's ab“, meint er, weiterhin
       misstrauisch. Es ist später Nachmittag, die Sonne brennt noch. „Wer nicht
       mehr stehen kann, sollte sich hinsetzen“, ruft der Mann mit dem Megafon. Es
       wird noch eine Weile dauern. Nur Schorol kann nach Hause gehen, er bekommt
       heute nichts.
       
       Spät in der Nacht, erst gegen 23 Uhr wird das Geld verteilt. Gegen 1 Uhr
       morgens ist vorerst Schluss. Am nächsten Tag soll es weiter gehen, die
       Arbeiter sollen um 10 Uhr wiederkommen. Milon hat drei Monatslöhne
       bekommen, weniger als ihm zusteht. Insgesamt 17.640 Taka, 170 Euro. Er hat
       es genommen und ist nach Hause gegangen. Jetzt braucht er nur noch einen
       Job.
       
       Am Rana Plaza hat das Militär unterdessen bekannt gegeben, dass an diesem
       Tag 44 Leichen gefunden wurden. Die Zahl der Menschen, die ihr Leben
       gelassen haben, ist auf mehr als 700 gestiegen.
       
       8 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lalon Sander
       
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