URI: 
       # taz.de -- Genossen feiern Geburtstag: Tausend Jahre SPD
       
       > Es gibt sie noch: Genossen, die der Partei treu sind. Die ihr Leben an
       > ihr ausrichten. Die Urbans sind Sozialdemokraten in der fünften
       > Generation.
       
   IMG Bild: Drei der fünf Generationen: Gisela und Lothar Urban, Sohn Steffen, Tochter Julia und zwei Enkelinnen.
       
       Es regnet schon wieder. Aus tief hängenden Wolken fallen Tropfen auf einen
       unscheinbaren Flachbau aus den Siebzigern. Ein kalter Film überzieht
       Tischtennisplatten, Rutsche und Gras. Im Flachbau steht ein Mann am
       Fenster, betrachtet die Szenerie, lächelt und sagt zufrieden: „Is schön
       hier, nä?“
       
       Lothar Urban hat eine Gabe. Der 62-Jährige, ein Mann mit ergrauendem
       Schnurrbart, breitem Kreuz und kräftiger Stimme, kann Menschen überzeugen.
       Er kann das, weil er selbst an etwas glaubt. Wo andere nur das von ihm
       geleitete Salvador-Allende-Bildungszentrum in Oer-Erkenschwick sehen, sieht
       Urban einen wahr gewordenen Traum. Den Traum von unbeschwerter Freizeit für
       Jugendliche aus armen Familien.
       
       Und wo andere den wirtschaftlichen Niedergang einer Region sehen, soziale
       Probleme und schlechtes Wetter, sieht er die Chance, etwas besser zu
       machen. Mal abgesehen vom Wetter. Vor allem aber glaubt Lothar Urban an die
       SPD.
       
       „Hab ich überhaupt Freunde außerhalb der Partei?“ Lothar Urban guckt
       nachdenklich, als stelle er sich die Frage zum ersten Mal. Dabei ist er
       seit 45 Jahren Mitglied. Sein Blick geht auf die hölzerne Wandvertäfelung.
       „Die Helga und der Bodo! Et könnte sein, dat die ausgetreten sind, als ich
       den Ortsverein gewechselt hab.“
       
       ## Die Partei als Familie
       
       Vor ihm liegt ein Aktenordner mit alten Zeitungsberichten, auf dem Deckel
       steht „SPD“. Abgeheftet ist auch ein Brief von Johannes Rau, er stammt von
       1989. Der Ordner ist ein Familienalbum für eine Partei.
       
       Urban klemmt ihn sich unter den Arm und geht zum Parkplatz. Feierabend im
       Jugendheim, einer Einrichtung der „Falken“. Die linke Jugendorganisation
       steht der SPD nahe, wie alles in Urbans Leben. Doch Feierabend hat er noch
       lange nicht. Etwas in ihm treibt ihn immer weiter: noch ein Ehrenamt, noch
       ein Kinderfest. Durch den Nieselregen fährt er zurück nach Gelsenkirchen.
       
       Vielleicht muss man so sein, um einer Partei die Treue zu halten, die eine
       große Vergangenheit hat, aber feststeckt in einer trüben Gegenwart. Die SPD
       feiert ihren 150. Geburtstag zu einer Zeit, in der ihr kaum jemand zutraut,
       noch einmal stärkste politische Kraft zu werden. Die Umfrageergebnisse sind
       mies, der Kanzlerkandidat ist umstritten, die Agenda 2010 noch immer nicht
       verwunden. Doch Lothar Urban kümmert das nicht.
       
       Sein Leben dreht sich um die SPD: Er ist nicht nur Chef des Sozialistischen
       Bildungszentrums, sondern auch Vorsitzender der SPD-Bezirksfraktion in
       Gelsenkirchen-Mitte. Nebenbei organisiert er Reisen für Kinder und
       Jugendliche, arbeitet als Schöffe am Gericht, hat eine Stiftung gegründet,
       war in der Schulpflegschaft, und wenn der Frühling kommt, organisiert er
       Reinigungstrupps für Gelsenkirchens dreckige Straßen – am Wochenende. Sein
       Leben ist die SPD.
       
       ## Kein Fan von Schröder
       
       Urban lenkt den Wagen auf die Autobahnabfahrt, gleich ist er zurück in
       Gelsenkirchen. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht. Hat er nie an
       Austritt gedacht, etwa in der Entstehungszeit der Agenda 2010? „Warum?
       Solange es Dinge gibt, zu denen man stehen kann, ist das okay.“
       
       Zwar war er einst ein Fan der linken Heidemarie Wieczorek-Zeul, nicht des
       Parteirechten Gerhard Schröder. Aber selbst für dessen spätere
       Agenda-Politik findet Urban heute freundliche Worte. Wäre die SPD eine
       Kirchengemeinde, wäre er eine Art Kaplan. Er predigt nicht die Erlösung der
       Menschheit, er organisiert das Hier und Jetzt.
       
       Und tatsächlich erfüllt die SPD in Gelsenkirchen für viele Funktionen, die
       anderswo die Kirchen übernehmen. Sie ist eine Welt für sich. Wer sie nicht
       verlassen will, muss es nicht, sie gibt einem ja alles, vor allem das
       Gefühl, dazuzugehören.
       
       Die Urbans sind Sozialdemokraten in fünfter Generation. Schon beide
       Großeltern Lothar Urbans, mütterlicher- wie väterlicherseits, waren in der
       Partei. Opa Johann Urban kam aus Ostpreußen ins damals florierende
       Ruhrgebiet. Lothars Onkel und Tanten waren alle SPD-Mitglieder, „dat ging
       gar nich anders“.
       
       ## Sieben Enkelkinder
       
       Tochter Julia ist in der Partei, Sohn Steffen leitet ein Jugendheim der
       Falken in der Nähe. Der andere Sohn ist nicht in der Partei, aber
       Gewerkschafter, immerhin. Um die Mitgliedschaften seiner sieben Enkelkinder
       kümmert sich der Großvater persönlich. Unterm Strich kommen die fünf
       Generationen der Urbans wohl auf 1.000 Jahre Parteimitgliedschaft.
       
       Urban fährt vorbei an Industriebrachen und einer abgebrannten Aldi-Filiale.
       An den grauen Hausfassaden hängt noch der Ruß längst stillgelegter
       Kohlekraftwerke. „Der Laden da hat auch zugemacht“ sagt Urban, „et hält
       sich hier nix.“
       
       Gelsenkirchen war einmal eine florierende Stadt. Ende der 1950er lebten
       fast 400.000 Menschen hier. Heute sind es noch rund 260.000, und es werden
       immer weniger. Die Arbeitslosenquote liegt konstant über dem
       Landesdurchschnitt, im März waren es 12,5 Prozent.
       
       Urban parkt seinen Wagen nahe dem Hauptbahnhof, eilt durch die
       Fußgängerzone zu einem Fünfziger-Jahre-Bau. In einem fensterlosen Raum,
       Teppichboden, niedrige Decken, Kekse aus der Dose, beginnt die Sitzung der
       SPD-Bezirksfraktion Gelsenkirchen-Mitte.
       
       ## Das Gefühl, gebraucht zu werden
       
       Die Partei hat hier wie im Stadtrat die Mehrheit. Die Genossen machen
       Scherze. Dass „Lothar“ pünktlich zur Sitzung erscheine, sei ja noch nie
       vorgekommen. Er lächelt, es freut ihn, im Zentrum zu stehen, gebraucht zu
       werden.
       
       Als Lothar jung war, war sein Vater Heinz das Kraftzentrum der Familie, ein
       mächtiger Mann innerhalb der mächtigen Ruhr-SPD: 13 Jahre Mitglied des
       Düsseldorfer Landtages, Gesamtbetriebsratschef der Thyssen-Gießereien in
       Westeuropa. Zur Feier der Geburt seiner ersten Enkelin gab er den Arbeitern
       im Gussstahlwerk Gelsenkirchen für den Rest des Tages frei. So erzählt es
       der Sohn voller Stolz. Und fügt hinzu: „Der war viel wichtiger als ich.“
       
       Heinz Urban starb 1977. Der Sohn, der heute älter ist, als sein Vater je
       war, versucht noch immer, seinem Erbe gerecht zu werden. Die vom Sohn
       gegründete Stiftung trägt seinen Namen.
       
       Lothar Urban steht für die bundesrepublikanische Ära der SPD. Er wurde 1950
       geboren, ein Jahr nach der Staatsgründung. Als Kind bekam er 5 Mark
       „Maigeld“. Dafür musste er bei Demonstrationen am 1. Mai mitmarschieren,
       eine Fahne tragen. Niemand fragte, ob das Kind andere Hobbys hatte.
       
       ## Aufstieg durch Bildung
       
       1968, im Jahr der Studentenrevolte, trat er der Partei bei. Ein Revoluzzer
       war er nicht, er ging zur Bundeswehr, studierte Betriebswissenschaft. Die
       SPD stand für ein großes Versprechen: sozialer Aufstieg durch Bildung.
       Wegen Willy Brandt sei er Mitglied geworden, sagt er. Aber wohl auch, weil
       alles andere schlicht unmöglich gewesen wäre. Nicht gegen den Willen der
       Eltern, der Geschwister, Onkel, Tanten, Großeltern, Kollegen und Freunde.
       
       Als Kassierer im Ortsverein klapperte der junge Urban 50, 60 Haushalte ab,
       um eine Mark pro Monat und SPD-Mitglied einzusammeln. Viele mussten sich
       das Geld vom Munde absparen. Urban lernte, wie viel Armut es gab im
       Wirtschaftswunderland Bundesrepublik. Und dass nur eine Partei erfolgreich
       sein kann, die vor Ort präsent ist. „Wenn uns jemand anspricht, haben wir
       Sprechstunde.“ Die Genossen nicken. Heute verkauft die Parteispitze diese
       Erkenntnis als neuesten Trend aus den USA.
       
       Eineinhalb Stunden lang reden die Genossen über Schlaglöcher und
       schleppende Bauanträge. Was sie verabreden, ist dank Mehrheit so gut wie
       beschlossen. Dann geht ein langer Arbeitstag zu Ende. Lothar Urban setzt
       sich wieder ins Auto, es geht nach Hause.
       
       Kann er sich ein Leben ohne Parteiarbeit vorstellen? Urban schaut wieder so
       nachdenklich, als frage er sich das zum ersten Mal. „Nä“, sagt er und
       blickt auf die Straße. „Da müsst ich mich ja selbst verleugnen. Dann wär ja
       alles falsch gewesen, was ich gemacht hab.“ Dass die Partei etwas falsch
       gemacht haben könnte, dieser Gedanke kommt ihm nicht.
       
       ## Gründervater Lassalle
       
       Nach kurzer Fahrt parkt Urban seinen Wagen vor einem Flachbau. Rechts liegt
       seine Wohnung, in der er seit Jahrzehnten lebt. Links daneben erhebt sich
       das Ferdinand-Lassalle-Haus, auch ein Jugendheim der Falken. In gewisser
       Weise kommen hier Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Namensgeber
       Lassalle gründete 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Weil unter
       anderem aus ihm die SPD erwuchs, feiert die Partei in diesem Jahr ihren
       Hundertfünfzigsten.
       
       Urban und seine Frau leben in der Hausmeisterwohnung. An der Küchenwand ist
       die gleiche Holzvertäfelung wie im Salvador-Allende-Haus. Ehefrau Gisela
       schenkt Cappuccino ein. Sie ist Kinderkrankenschwester, die beiden lernten
       sich 1970 in einer Disco kennen.
       
       Als Lothars Vater die junge Frau aus dem katholischen Sauerland
       kennenlernte, sagte er ihr: „Wenn du den heiraten willst, musste erst inne
       Partei eintreten.“ Kurz darauf war sie SPD-Mitglied. Sie ist es bis heute.
       Auch sie arbeitet ehrenamtlich, seit Jahren ist sie Schöffin am
       Jugendgericht. Ihren Mann trifft sie schon mal im Gerichtssaal. Nebenbei
       ist auch er Schöffe.
       
       Nur ein einziges Mal an diesem Tag ist Lothar Urban fast sprachlos. Mit
       Blick auf seine Frau sagt er laut: „Bodo und Helga sind nich in der
       Partei?“ „Nee“, antwortet Gisela Urban ruhig, „wir haben nich alle
       gezwungen.“
       
       ## Religion Schalke 04
       
       Tochter Julia setzt sich an den Küchentisch. Die Kindergärtnerin ist mit
       ihrer Tochter Jana auf einen Schwatz vorbeigekommen. Natürlich ist Julia
       Urban-Jost auch in der Partei. Dat geht gar nich anders. „Aber ich hab
       keine Lust, meine Wochenenden auf Parteiveranstaltungen zu verbringen. Bei
       uns ist der Erziehungsstil nich durch die Kirche geprägt.“ Weder durch die
       klassische Kirche noch die namens SPD. Ihre drei Kinder haben Hobbys statt
       Parteiverpflichtungen, sie müssen am 1. Mai keine Fahne tragen. „Unsere
       Religion“, sagt Tochter Julia, „ist Schalke 04.“
       
       Die zwölfjährige Jana, eine Gymnasiastin, kommt an den Küchentisch. „Aber
       ich hab nix mit der Partei zu tun, oder?“, fragt sie. Ihre Mutter schaut
       sie an: „Womit bisse denn in Urlaub gefahren?“ Jana versteht nicht recht:
       „Na, mit den Falken.“ Kurze Pause, scheues Lächeln in die Runde: „Ach so.“
       
       6 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Matthias Lohre
       
       ## TAGS
       
   DIR SPD
   DIR Sozialdemokraten
   DIR Parteien
   DIR Ruhrgebiet
   DIR Kanzlerkandidatur
   DIR Franz Walter
   DIR SPD
   DIR SPD
   DIR SPD
   DIR Agenda 2010
   DIR SPD
   DIR SPD
   DIR Kanzlerkandidatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR SPD im Wahlkampf: Ran an den Osten
       
       Auf seiner Länderreise buhlt Kanzlerkandidat Peer Steinbrück um die Stimmen
       der Ostdeutschen. Wie kommt der Hanseat im Osten an?
       
   DIR Debatte 150 Jahre SPD: Bildung als Bedrohung
       
       Die Sozialdemokraten versprechen Aufstieg durch Wissen. Aber das kann in
       einer gespaltenen Gesellschaft nicht für alle zum Ziel führen.
       
   DIR Die Sozialistische Internationale: Gabriel, der Spalter
       
       Niemand kennt die Sozialistische Internationale. Die SPD will daher ein
       neues Bündnis gründen. Griechenlands ehemaliger Ministerpräsident
       protestiert.
       
   DIR Wahlprogramm der SPD: Einstimmig nach links
       
       Mindestlohn, Bürgerversicherung und Mietpreisdeckelung stehen drin. Die SPD
       profiliert sich mit einem neuen Wahlprogramm.
       
   DIR Die SPD vor ihrem Bundesparteitag: Auf verlorenem Posten
       
       Peer Steinbrück soll Kanzler werden? Die Sozialdemokraten wirken
       inzwischen, als gäben sie den Wahlkampf bereits verloren.
       
   DIR SPD-Projekt Agenda 2010: Blick zurück im Zorn
       
       Die Reform sollte die Kosten des Sozialstaats senken. Das tat der SPD gar
       nicht gut: verstärkter Mitgliederschwund und Konkurrenz von Links folgten.
       
   DIR Das Wahlprogramm der SPD: Sozialdemokraten folgen Bürgerwillen
       
       Die SPD-Führung verteidigt die Agenda 2010 vehement – und will sie
       korrigieren. Der Mindestlohn soll eingeführt werden, der Spitzensteuersatz
       steigen.
       
   DIR Debatte Peer Steinbrück: Der Mann von gestern
       
       Nicht die Kommunikationspatzer Peer Steinbrücks sind das Problem, es ist
       seine autoritäre Staatsgläubigkeit. Sie passt nicht mehr zur Partei.
       
   DIR Kommentar Peer Steinbrück: Kaltherzig und beratungsresistent
       
       Ein Mann, der die Kanzlerschaft als eine Art mies bezahlten
       Geschäftsführerposten begreift, ist für Angela Merkel keine ernsthafte
       politische Herausforderung.
       
   DIR SPD-Parteitag in Hannover: Der Peerteitag
       
       Der Kandidaten-Kandidat Peer Steinbrück ist mit 93 Prozent zum
       SPD-Spitzenkandidaten gewählt. Er beschwört „mehr Wir und weniger Ich“.