URI: 
       # taz.de -- Kolumne Später: Andy Warhol kannte RTL nicht
       
       > Wenn 1.500 Künstler ihr Lieblingsbild ausstellen, muss man dem
       > Aufmerksamkeit schenken. Wenigstens ein bisschen.
       
   IMG Bild: Jedem sein Bild: Ausstellungsaktion „Macht Kunst“
       
       Neulich in der Warteschlange kam mir in den Sinn, dass jeder ein bisschen
       Aufmerksamkeit braucht im Leben. Auch in den späten Jahren. Mein Bekannter,
       F., zum Beispiel hat einen autobiografischen Roman vollendet und im
       Selbstverlag 200 Stück drucken lassen. Mutig. Z. spielt in einem burlesken
       Amateurtheater. S. tritt mit ihrer Band demnächst beim Straßenfest auf,
       hoffentlich regnet es nicht.
       
       Und Freddie, von Beruf Architekt, ist Hobbyfotograf. Nur so für sich. Na
       ja, nicht nur. Deswegen stehen Christoph und ich an jenem Sonntag in der
       Warteschlange vor der „Alten Münze“. 1.500 Bilder von 1.500
       kunstschaffenden Menschen aus Berlin hängen dort. Jeder darf für 24 Stunden
       ein selbst gemachtes Lieblingsbild ausstellen, es gibt keine besonderen
       Kriterien und Freddie ist dabei.
       
       Hunderte an Freundinnen, Bekannten und Verwandten der KünstlerInnen sind
       gekommen. Auch die Künstler selbst, die ihr Bild an den Tagen zuvor
       abgegeben haben, müssen anstehen. Es gibt nämlich keinen Künstlereingang,
       der wäre ohnehin verstopft angesichts von 1.500 Produzenten.
       
       Jemand in der Warteschlange vergleicht die Ausstellung mit der Idee Andy
       Warhols, jeder Mensch müsse einmal im Leben für 15 Minuten im Fernsehen
       auftreten dürfen, dann wäre die Gesellschaft gerechter. Na ja. Warhol
       kannte nicht RTL am Nachmittag.
       
       ## Christus mit Dornenkrone
       
       Wir haben Freddie versprochen, durchzuhalten und dann ein Foto zu machen
       von seinem Kunstfoto eines Bungeespringers vor einer Hochhausfront. Freddie
       ist leider verhindert. Nach einer Stunde sind wir drin.
       
       Ich sehe Krokodile im Zoo in Öl gemalt. Christus mit Dornenkrone und der
       Frage in Frakturschrift: „Bist du meine Mutter?“ Auf einem Gemälde ist ein
       offenes graues Flugzeug zu sehen, in dem die Bremer Stadtmusikanten sitzen.
       Jemand hält abgegessene Pappteller mit fixierten Speiseresten immer noch
       für Kunst.
       
       Frivoles ist auch dabei, so die Netzstrümpfe, die die Künstlerin über einen
       Postkartenständer spannte, harhar. Jemand anderes schnitt einen großen
       Kreis aus blutrotem schwerem Samtstoff aus, in den Kreis wurde ein goldener
       Reißverschluss genäht, dieser ist halb geöffnet und gibt nun den Blick auf
       ein dahintergeklebtes Blümchenmuster frei.
       
       Aber keine Sonnenuntergänge, keine Hafenbilder, keine Blumenaquarelle, ich
       schwör’s. Und ich habe mir ein Ölbild länger angeschaut als alle anderen,
       60 Sekunden lang. Eine mittelalte Frau mit grober Wollmütze ist darauf zu
       sehen, alles braun in grau wie an der Nordsee. Die Wollmütze der Frau ist
       gestochen scharf. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor.. Im Hintergrund steht
       ein Mann, unscharf gemalt. Das Bild trägt die Nummer 902, Nicole
       Fritzsche-Brandt, ich werde die Malerin einmal googeln.
       
       ## Jedes Bild braucht einen Betrachter
       
       Nach einer Stunde haben wir Freddies Bungeespringer gefunden. Er hängt im
       fünften Raum rechts unten an der mit Bildern zugepflasterten Wand.
       
       Christoph macht Fotos. Eine Frau im grünen Trenchcoat schaut sich den
       Bungeespringer vor der Hochhausglasfront lange an. 30 Sekunden mindestens.
       Das Bild scheint was in ihr wachzurufen. Das Risiko, der Flug, die
       Großstadt.
       
       Vielleicht muss jede Künstlerin immer nur einen oder zwei Betrachter
       finden, denen ihr Bild was sagt. Dann ist nämlich alles gut.
       
       6 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
   DIR Barbara Dribbusch
       
       ## TAGS
       
   DIR Ausstellung
   DIR Später
   DIR Zahnarzt
   DIR SPD
   DIR Fitnessstudio
   DIR Männer
   DIR taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Später: Frau Dr. F. rettet den Backenzahn
       
       Die Mittfünfzigerin braucht High-Tech-Medizin für ihre Zähne. So landet man
       im Superzahnzentrum mit OP-Mikroskop und Ultraschall. Das kostet.
       
   DIR Kolumne Später: Vielleicht doch die SPD? Schwierig
       
       Was tun, wenn die Lieblingspartei den eigenen Interessen widerspricht und
       in die Lebensentwürfe reinquatscht? Nachsichtig sein.
       
   DIR Kolumne Später: In der Bauchpresse für Daimler
       
       Ergibt es Sinn für die Mittfünfzigerin, wieder ins Fitnessstudio zu gehen?
       Ich tu' mal so als ob.
       
   DIR Kolumne Später: Kein Strip im „Egoistka“
       
       Wenn alte Frauen jungen Männern hinterher schauen – ist das schon
       weiblicher Sexismus?
       
   DIR Kolumne Später: Unter der Slackline
       
       Die Mittfünfzigerin ertappt sich dabei, wie sie gern Männern beim
       Balancieren auf dem Gurtband zuschaut. Ein Fortschritt.
       
   DIR Kolumne Später: Frühstück mit Steinbrück
       
       Wenn Männer in die Wechseljahre kommen, brauchen Frauen ein paar Theorien
       und ein großes Herz.