URI: 
       # taz.de -- Meditation zum 1. Mai: Hauptsache Arbeit
       
       > Ein Iraner sucht Sinn, die Kanzlerin missioniert, eine Sachbearbeiterin
       > erzieht, ein Ehepaar verzweifelt beim Lotto: Vier Szenen zum Tag der
       > Arbeit.
       
   IMG Bild: Auch eine Möglichkeit dem Alltag und der Arbeit zu entfliehen
       
       Szene 1: Der Privatier 
       
       Der Tag der Arbeit, der 1. Mai, ist auch der Tag des Privatiers: Es ist der
       Tag von Arman, Ende 20, Iraner. Er saß in einer Kantine in Istanbul,
       Fakultät für Architektur, und aß mit Professoren, als ich ihn kennenlernte.
       
       Man stellte mir ihn vor als den Sohn eines ehemaligen Ministers im
       
       Kabinett des Schahs, er war groß, er sprach schnell und hatte ein Problem:
       Unmengen Geld, in dessen Strömung er sich durch die Welt treiben ließ,
       Berlin, USA, Italien, feiernd, vögelnd, und jetzt eben dort, nachdenkend,
       irgendwie zum Halten gekommen, eine Stunde, zwei Stunden, teetrinkend, er
       sah auf den Bosporus und fragte sich, wohin mit dem Leben.
       
       Seine Verzweiflung war echt.
       
       Er hätte sich einen Flug nach Miami buchen können, eine Yacht ersteigern,
       vier Rolex kaufen. „Such Dir Arbeit“, sagte einer der Professoren.
       
       Arman zögerte: Er brauchte kein Geld, was sollte er auch mit 2 000 oder
       10.000 Dollar im Monat mehr? Er wollte keine Chefs, die ihn kommandierten
       und keine festen Arbeitszeiten. Er wollte arbeiten, aber nicht unterhalb
       der obersten Etagen eines internationalen Konzerns, doch der Weg dorthin
       war ihm versperrt, solange ihm für ein echtes Studium die Geduld fehlte und
       solange ihn das Geld immer wieder aus den Hörsälen zurück in die Bars der
       Stadt schwemmte: Er spendierte Drinks, tanzte und ging nie alleine nach
       Hause und selten nüchtern. Arman war arbeitslos, er war auf komische Weise
       nicht vermittelbar.
       
       Dann ging er nach Berlin, im Strom des Geldes, traf in Clubs auf eben jene
       Frauen, Spanierinnen, Italienerinnen, Griechinnen, die auch arbeitslos
       waren, aber dringend arbeiten wollten, deswegen waren sie hergekommen, Teil
       einer Generation, die im eigenen Land systematisch gedemütigt wird, weil es
       keine Arbeit gibt, trotz Studium, trotz Anstrengung, trotz Praktika, trotz
       Sprachen. Sie waren das Gegenteil von Arman: wenig Geld aber jede
       Bereitschaft, sich einzusetzen. Aber sie tanzten sich den Frust vom Leib
       wie er.
       
       Szene 2: Die Kanzlerin 
       
       Es ist auch der Tag der deutschen Kanzlerin, Angela Merkel, in jenem Moment
       im Oktober 2012, als sie sich im Arbeitszimmer des griechischen
       Ministerpräsidenten Samaras auf einem Sofa niederlässt, der
       Ministerpräsident ihr gegenüber.
       
       „Nice office“, sagte Angela Merkel und es ist eines der größten
       Komplimente, das eine deutsche Kanzlerin einem griechischen Regierungschef
       machen kann, in der jetzigen Situation. Jetzt, da Deutschland halb Europa
       vorwirft, es arbeite zu wenig und zu kurz.
       
       Nice Office, damit lobte sie jenen heiligen Ort, an den Deutsche pilgern,
       fünf Tage die Woche, acht Stunden, Mails am Wochenende, ihre Religion ist
       die Arbeit und blasphemisch scheint es, wenn man sie fragt, was sie da
       jeden Tag tun: Frühstücken, in der U-Bahn zur Arbeit, mit Papieren unter
       dem Arm, in ein mehretagiges Gebäude, sie wählen im Aufzug ihr Stockwerk
       und hoffen, dass es bald eins höher ist, sie nennen einen der ihren Chef.
       
       Und wenn man sie dann doch fragt, was sie da tun, dann erschrecken sie wie
       ein Schlafwandler, den man beim Schlafwandeln anspricht. Wenn Angela Merkel
       durch Europa reist, um Europa zu retten, dann tut sie es als Führerin jener
       Religion.
       
       Szene 3: Die Sachbearbeiterin 
       
       Es ist auch der Tag jener Sachbearbeiterin in einer Arbeitsagentur in
       Süddeutschland, nicht weit von ihr entdeckte Max Weber den protestantischen
       Arbeitsethos.
       
       Sie stand kurz vor ihrer Mittagspause, sie rückte dem Kunden ein Stuhl
       zurecht und man ist sich unsicher, ob man Kunde sagen soll, ob man diese
       Sprache übernimmt, weil sich die Sachbeabeiterin eher pädagogisch verhielt,
       mütterlich streng, hoch gezogene Augenbrauen, wie ein Arzt, der seinem
       fettleibigen Patienten das Schnitzel ausreden will: Bitte, setzen Sie sich.
       Das ist ihr Merkheft, Rechte und Pflichten. Melden sie sich bitte ab, wenn
       Sie in den Urlaub wollen, das heißt wenn Sie den Nahbereich über Nacht
       verlassen.
       
       Nahbereich? Was heißt das?
       
       Nun, Sie können morgens an den Bodensee fahren, aber da müssen Sie abends
       wieder hier sein. Falls sich ein Arbeitgeber meldet mit einem Jobangebot:
       Da müssen Sie verfügbar sein.
       
       Szene 4: Das Ehepaar 
       
       Es ist der Tag jenes Ehepaars, das draußen im Garten die Lottozahlen
       guckte, Mittwochsziehung, es war zehn vor sieben, der 3. April 2013. Die
       Lottofee, Kleider in den Farben von Cappuccino und Milchkaffee, ein
       Totenkopf auf dem Shirt, Stöckelschuhe, schritt von rechts nach links, als
       sich die Trommel zu drehen begann. Das Sagenhafte, dass man diese Frau, die
       dort stöckelt, Fee nennt: Die Trommel dreht sich, die Fee steht links.
       
       Es sind die hundertstel Minuten, in denen sich entscheidet, wie jede Woche,
       ob das Ehepaar aus seinem Leben gekauft wird, die wöchentliche Aussicht auf
       Lösegeld: Job kündigen, Urlaub auf Mauritius, ein drittes Auto vielleicht.
       
       Dann werden die Kugeln aus ihrem Kugelbett gelassen, sie fallen und rollen.
       Das Ehepaar: Sie arbeiten gerne und viel, ja: dankbar für ihre Stelle. Aber
       sie würden kündigen, hätten sie das Geld. Die Trommel dreht sich und lässt
       Kugeln fallen: Die 3, die 8, die 11, die 26, die 32, die 40, Zusatzzahl 9.
       
       Das Ehepaar hat fünf Richtige, fünf Richtige!, fünf Richtige!, FÜNF
       RICHTIGE: Job kündigen? Urlaub auf Mauritius? Ein drittes Autovielleicht?
       
       Sie greifen, in Gedanken, nach dem Geld, dann tritt der Ziehungsleiter vor
       die Kamera, er trägt Zweireiher mit schwarzer Weste, die Frisur eines
       Erdkundelehrers, er nimmt ein Mikrofon: „Die Ziehung ist ungültig, weil wir
       festgestellt haben, liebe Frau Maurer, dass bei der Eingabe der Kugeln in
       das Ziehungsgerät eine Panne passiert ist, eine technische Panne. Zwei
       Kugeln sind auf dem Schlitten, wie wir das nennen, verblieben und somit
       nicht in die Ziehung eingegangen. Und somit ist es leider unmöglich, dass
       wir diese Ziehung als gültig erklären, weil zwei Kugeln gefehlt haben, die
       nicht am Ziehungsvorgang teilnehmen konnten.“
       
       Und dann zeigt die Lottofee auf die Trommel und sagt: „Obwohl eben unser
       Aufsichtsbeamter, unser Ziehungsleiter, alle, wir haben alle dahin geguckt,
       aber offensichtlich muss ein Lichtreflex da gewesen sein, der es verhindert
       hat, dass es uns aufgefallen ist!“
       
       1 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Dachsel
   DIR Felix Dachsel
       
       ## TAGS
       
   DIR Reichtum
   DIR Berlin
   DIR Arbeit
   DIR Tag der Arbeit / 1. Mai
   DIR Agentur für Arbeit
   DIR Lotto
   DIR Demografie
   DIR weltweit
   DIR Tag der Arbeit / 1. Mai
   DIR Hamburg
   DIR Bangladesch
   DIR Griechenland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Demographischer Wandel im Osten: Das Rote Kreuz bringt das Wasser
       
       In ländlichen Regionen bricht zunehmend die Infrastruktur weg. Was kommt
       nun: Freiwilligenarbeit? Ein Besuch in der Altmark.
       
   DIR 1. Mai weltweit: Picknick statt Kundgebung
       
       Zum 1. Mai gingen früher weltweit viele Millionen auf die Straße. Heute hat
       der Tag vielerorts seine Brisanz verloren – aber durchaus nicht überall.
       
   DIR 1. Mai in Europa: Alle Fähren stehen still ...
       
       In vielen europäischen Ländern wird am 1. Mai demonstriert und gefeiert. In
       der Türkei hat es gekracht, in Griechenland geht nichts mehr, Putin
       verleiht Ehrentitel.
       
   DIR Gerbrauchsanweisung 1. Mai in Hamburg: Vier Bier für ein Hallelujah
       
       Der Start des KirchentagS geht nahtlos in die traditionellen Maikrawalle in
       Hamburgs Schanzenviertel über. Ein kleiner Überblick.
       
   DIR Textilfabriken in Bangladesch: Erste Schritte zur Entschädigung
       
       Erste Textilketten haben den Opfern des Gebäudeeinsturzes Hilfe zugesagt.
       Für die gäbe es Regeln. Halten sie sich daran?
       
   DIR Schuldenkrise in Griechenland: Auf dem Pulverfass
       
       Während die griechische Regierung von einem „Ende der Qualen“ spricht, gärt
       es im Land. Fehlende Jobs und ausbleibendes Geld sorgen für
       Unzufriedenheit.