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       # taz.de -- Willie Nelson wird 80 Jahre alt: Zen-Meister der Countrymusik
       
       > Als die Hippies auf dem Land das ursprüngliche Leben suchten, stießen sie
       > auf Willie Nelson. Nun feiert der Sänger seinen 80. Geburtstag.
       
   IMG Bild: Wieso kann so einer Weltstar werden? Nur auf seine Weise: Willie Nelson.
       
       Das gibt es nur in Texas. Mag der riesige Bundesstaat im Süden der USA in
       Europa als Brutstätte rassistischer Rednecks und furchterregender
       Waffennarren verschrien sein – die dort vorherrschende
       turbo-individualistische Ideologie macht ihn auch zu einem Biotop und einem
       Rückzugsraum für hochgradig unangepasste exzentrische
       Künstlerpersönlichkeiten.
       
       Typen wie Townes Van Zandt, Mayo Thompson und Daniel Johnston sind
       beziehungsweise waren stolze Texaner. Und unser rüstiger Jubilar, der in
       diesen Tagen seinen 80. Geburtstag begeht, wird dort bedingungslos als
       Volksheld verehrt – obwohl er als bekennender Anhänger der Occupy-Bewegung
       und als Aktivist, der für die Legalisierung von Marihuana und
       gleichgeschlechtliche Eheschließungen eintritt, in kaum einer Hinsicht dem
       konservativ-religiösen Südstaaten-Mainstream entspricht.
       
       Willie Nelson ist so sehr individualistischer Außenseiter, dass er gegen so
       ziemlich alle geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der
       US-Entertainmentindustrie verstoßen hat. Wieso kann so einer Weltstar
       werden? Nur auf seine Weise. Lange sah es so aus, als würden ihm seine
       Idiosynkrasien – näselnder Gesang, ungewöhnliches Songwriting (sowohl
       textlich als auch musikalisch), unamerikanisches Wertesystem – in der
       üblichen Währung vergolten werden: mit Ablehnung, Missachtung,
       Aussortierung.
       
       Klar, einige seiner Songs wurden von anderen Künstlern zu Monsterhits
       gemacht: Patsy Cline machte „Crazy“ 1962 etwa zum Standard. Andere Titel
       wie „Night Life“ (mit dem Glaubensbekenntnis eines jeden Profi-Ravers als
       Refrain: „The night life / ain’t no good life / But it’s my life“) gehören
       heute zum Great American Songbook.
       
       ## Glaubensbekenntnis Nachtleben
       
       Aber seine eigenen Alben liefen während der ersten zwei Jahrzehnte seiner
       Karriere schlecht. Wobei man rückblickend sagen kann: Nie war er besser als
       damals. Vor allem war er zunächst ein nimmermüder Songschreiber, der jedes
       Jahr Dutzende neuer Werke verfasste. Inspiration hierfür lieferte vor allem
       seine stürmische erste Ehe. Beide Ehepartner waren jung, ausgesprochen
       lebenshungrig und nahmen es mit ehelicher Treue nicht so genau.
       
       Sein Frau Martha entwickelte immer wieder neue Methoden, ihren Willie
       körperlich zu züchtigen. Berühmt geworden ist jene Episode, in der sie den
       seinen Rausch ausschlafenden Gatten ins Bettlaken einnäht, um ihn
       anschließend mit einem Besenstiel zu verkloppen. Nelson verarbeitet das
       alles in Songtexten. „Suffer In Silence“, „I’m Still Not Over You“,
       „Opportunity To Cry“ – schon die Songtitel deuten an, wie hoch es zwischen
       den Eheleuten Nelson herging.
       
       ## Raffinierte Texte
       
       Sie verraten jedoch nichts über die Raffinesse der Texte. So nahm Nelson
       schon vor Jahrzehnten heute aktuelle Philosophietrends vorweg und räumte
       leblosen, ja abstrakten Dingen Rederecht in seinen Auseinandersetzungen
       ein: In „Hello Walls“ unterhält er sich mit den Fenstern und Wänden seiner
       Wohnung und fragt sie, ob sie denn nicht auch seine Verflossene so
       vermissten.
       
       In „I Let My Mind Wander“ beschreibt er seine Gedankenwelt als unabhängigen
       Widerpart, gegen den er ankämpfen muss, auf dass er ihn nicht mit
       Erinnerungen an die Ex peinige: „Can’t trust it one minute / It’s worse
       than a child / Disobeys without conscience / It’s drivin’ me wild“. Also
       versucht er seine Gedanken auf Wanderschaft zu schicken, abzulenken mit den
       Neuigkeiten des Tages, aber: „I let my mind wander / And what did it do? /
       It just kept right on going / Until it got back to you“.
       
       ## Glück und Demut
       
       In all diesen Variationen des Themas verfällt er nie auf den im
       Country-Genre beliebten Ausweg, die Schuld der Frau zuzuweisen. Stattdessen
       scheinen ihn die emotionalen Verschlingungen zur Erkenntnis hingeführt zu
       haben, dass Glück eine einfache Sache ist, der am besten mit Demut zu
       begegnen ist: „Here I sit with a drink and a memory / But I’m not wet, I’m
       not cold / And I’m not hungry / Classify these as good times“, singt er in
       „Good Times“, einem seiner majestätischsten Songs.
       
       Fast ein Dutzend Alben lang versuchte das RCA-Label – in den Sechzigern die
       beste Adresse im Country-Geschäft –, die Fangemeinde für solches
       Gedankengut zu gewinnen. Vergeblich. Als Nelson 40 wurde, stand er ohne
       Vertrag da und wollte die Musik schon aufgeben.
       
       ## Die Hippies waren schuld
       
       Dass es anders kam, verdanken wir den Hippies, die auf ihrer Suche nach dem
       wahren Leben zu Beginn der siebziger Jahre die Städte verlassen hatten und
       auf dem vermeintlich ursprünglichen Land angekommen waren. Die zur gleichen
       Zeit aus anderen Gründen dort gestrandeten Abtrünnigen vom
       Nashville-Establishment adoptierten sie als Bündnispartner, und plötzlich
       fanden sich gescheiterte Country-Sänger wie Nelson, Waylon Jennings und
       Tompall Glaser neben Southern-Rock-Bands wie Lynyrd Skynyrd als „Outlaws“
       gebrandet und als Speerspitze des neuesten Musikindustrie-Trends.
       
       Nelson ließ sich davon nicht beeindrucken. Auf einige unverschämt
       erfolgreiche Konzeptalben (allen voran „Red Headed Stranger“ von 1975)
       veröffentlichte er eine sein neues Label Columbia fast überfordernde Flut
       an höchst unterschiedlichen Alben. Songs, auf denen er seine Liebe zur
       amerikanischen Musik abarbeitete, vor allem aber auch Duett-Werke mit
       seinen Helden, etwa mit Hank Snow. Wobei man sich fragen kann, ob er damit
       gegen oder für seine Karriere arbeitete: Columbia hätte lieber ein wohl
       abgehangenes Marketing-gechecktes Produkt herausgebracht.
       
       ## Fehlende Emotionalität
       
       Sein Outlaw-Following liebte ihn für derartige Eskapaden indes umso tiefer.
       Vom Songwriting verabschiedete sich Nelson allerdings mehr und mehr. Die
       wenigen Eigenkompositionen, die seit Beginn der achtziger Jahre noch ihren
       Weg auf seine Alben fanden, besaßen nicht mehr diese eigentümlich in
       strenge Bahnen gelenkte rasende Emotionalität der frühen Jahre.
       Mittlerweile ist Nelson wieder bei Columbia gelandet, wo er einen Vertrag
       abschloss, der sorgsame Reissues aus seiner ersten Columbia-Zeit
       einschließt und auch neue Werke, von denen jetzt das Album „Let’s Face The
       Music And Dance“ erscheint.
       
       Die Mischung aus Country- und Broadway-Standards ist sympathisch. Sie
       bringt allerdings nichts, was man von ihm nicht schon besser gehört hätte.
       Ausdrücklich gefeaturet wird seine langjährige Begleitband, aber das
       Klaviergeklimper seiner Schwester Bobbie ist noch immer nicht
       erstligatauglich, wohingegen Schlagzeuger Paul English seinen ganz eigenen
       Swing, mit all den feinen Verzögerungen und kurzzeitigen Taktwechseln, kaum
       zur Geltung bringt.
       
       Wäre stattdessen nicht ein großes Alterswerk fällig? Sollte man Don Was
       oder gar Jack White berufen, auf dass sie als Produzenten aus Willie den
       großen Zen-Meister hervorkitzeln, der Lebenserfahrung und Güte in seiner
       Kunst transzendiert? Nicht nötig: Diese Werke hat er schon vor Jahrzehnten
       gemacht.
       
       ## Willie Nelson: „Let’s face the music and dance“ (Columbia/Sony)
       
       30 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
       ## TAGS
       
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