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       # taz.de -- Tanztheater aus Irland: Rituale aus Schäbigkeit
       
       > Die Company Fabulous Beast gastiert in Wolfsburg mit zwei
       > Ballettklassikern von Strawinsky. Hart und rau ist die Welt, in der sie
       > klassische Stoffe neu ansiedelt.
       
   IMG Bild: Fabulous Beast im „Sacre du Printemps“: Der Premiere im Sadler Wells in London folgt das Gastspiel in Wolfsburg.
       
       „Fabulous Beast“ nennt sich das Tanztheater aus Irland, und der Name trifft
       ins Schwarze: Die Gruppe ist fabelhaft, und sie ist biestig. Außerdem ist
       sie: querköpfig, komisch, kraftstrotzend, wild und unerbittlich. Ihre
       Tanzsprache und Ästhetik sind erdverbunden, ihre Geschichten grausam und
       geheimnisvoll wie alte Märchen.
       
       1997 vom Regisseur und Choreografen Michael Keegan-Dolan gegründet, ohne
       festes Ensemble, aber mit einem harten Kern verschworener Tänzer,
       Schauspieler, Mitarbeiter, hat sich die internationale Kompanie seit
       Anbeginn mit irisch-ländlichen Realitäten beschäftigt, fernab aller
       Folklore oder kauzig bemooster Whiskey-Klischees. Die Gruppe arbeitet gern
       auf dem Land und in totaler Abgeschiedenheit. Jahrelang hatten sie eine
       umgebaute Scheune in den Midlands als Probebühne.
       
       Die Kleinstadt-Welt, die sie zeigen, ist hart und habgierig, voller Neid,
       Heuchelei und Bosheit; das karge Leben hat die Menschen verroht, jeder
       hasst jeden, alle sind missgünstig und schadenfroh. Wer in solcher Umgebung
       zum Sündenbock wird, hat keine Chance.
       
       ## Das Glück des Anfängers
       
       Die „Midland Trilogy“, von 2003 bis 2007 entstanden, zeigt Jagdszenen aus
       Mittelirland, die so irisch sind, dass sie universell verstanden werden –
       so wie weiland die aus Niederbayern des Martin Sperr. „Das erste Stück der
       Trilogie, ’Giselle‘, ist vielleicht das beste, das ich je gemacht habe“,
       sagt Keegan-Dolan am Rande einer Probe. „Da kam alles zusammen: der Drang,
       diese Geschichte zu erzählen, die richtigen Leute zu haben, die sie
       erzählen konnten und das Glück des Anfängers.“
       
       Mit seiner „Giselle“-Version ist ihm ein großer Wurf gelungen, eine ebenso
       gültige, wenn auch ganz andere Modernisierung des Ballettklassikers wie die
       von Mats Ek zwei Jahrzehnte zuvor.
       
       ## Eine Geschichte aus Erde und Trauer
       
       Keegan-Doolans „Giselle“ ist eine Geschichte aus Erde und Trauer,
       angesiedelt in einem gottverlorenen Dorf, dessen Bewohner sich an Giselle
       zu rächen scheinen für ihr unglückliches Leben. Im ersten Akt gibt es viel
       Text, viel dumpf-dunkle Alltagszeremonien und ein ständiges
       Einanderbelauern. Fast alle Rollen, auch die weiblichen, werden von Männern
       gespielt, die Atmosphäre ist bedrückend und Giselle (Daphne Strothmann),
       das Bauernopfer, das die Meute braucht, um zu funktionieren.
       
       Als der Fremde auftaucht, hier „a bisexuel line dance teacher from
       Bratislava“, erfährt sie zum ersten Mal Freundlichkeit und Zuwendung. Sie
       bezahlt sie mit dem Leben. Der zweite Akt, nunmehr ohne Worte, fasst
       Friedhof, Wilis (die Geister unglücklich gestorbener Mädchen) und
       Erlösungsstreben in überirdisch schöne Bilder, die Grausamkeit und Gnade
       miteinander zu versöhnen suchen.
       
       „Giselle“ ist Tanz und Theater, Irland und Irrland, unendliche
       Trostlosigkeit und ein winziger Fetzen Hoffnung. Michael Keegan-Dolan
       etabliert sich damit als grandioser Geschichtenerzähler, der Bewunderer in
       vielen Ländern findet und manchen Feind im eigenen, von wegen der
       „Nestbeschmutzung“.
       
       ## Auf die innere Stimme hören
       
       Aber er lässt sich dadurch nicht beeindrucken und setzt seine Dark Trilogy
       fort. „Ich höre immer auf meine innere Stimme, und die drängte mich, ’The
       Bull‘ zu machen. Das Stück war meine Reaktion auf das, was in unserem Land
       geschah durch all die sozialen, finanziellen, ökonomischen Übergriffe. Und
       auch die nächste Arbeit, ’James, Son of James‘, war eine direkte Reaktion
       auf das, was in meinem Leben passierte: Mein Vater starb, meine Ehe ging in
       die Brüche. Bei ’Giselle‘ waren wir noch naiv, folgten unserer Intuition
       und wussten bis zum ersten Durchlauf gar nicht richtig, was wir da
       eigentlich machten. Die nächsten beiden Stücke waren reflektierter und
       persönlicher.“
       
       Für den gesellschaftskritischen „Bull“ bezog er sich auf das altirische
       Epos „An Táin Bó Cuailnge“ („Der Viehraub von Cooley“), dessen archaische
       Gier nach Macht und Besitz er mit den neoliberalen Raubzügen kurzschloss.
       Was als deftiges Volkstheater mit Livemusik und Torflandschaft daherkam,
       entpuppte sich als zerstörungswütige feindliche Übernahme einer ganzen
       Nation.
       
       ## Der Feind der Gemeinschaft
       
       Auch das subjektive Motiv hinter „James“ wuchs sich zu einer typischen
       Fabulous-Beast-Parabel aus: Der verlorene Sohn, der nach 11 Jahren ins
       Heimatdorf zurückkehrt, um seinen Vater zu begraben, wird erst als Retter,
       später als Feind der Gemeinschaft empfunden. „Es geht um die Tötung des
       Christus, um die Dynamik, dass die Menschen den Heilsbringer, der alles
       verändert, zunächst stets verehren, aber dann doch sehr froh sind, wenn er
       geopfert wird“, sagt der Choreograf.
       
       Die Stücke der Trilogie haben Preise gewonnen und sind viel gereist, von
       Großbritannien bis Australien, von Deutschland und Polen bis in die USA. In
       der Folge wird die Gruppe Associate Company des Barbican Centre und ihr
       Leiter Associate Artist bei Sadler’s Wells, beide London.
       
       Seither gibt es auch eine Zusammenarbeit mit dem English National Opera
       House, wo Keegan-Dolan Strawinskys „Sacre du Printemps“ choreografierte.
       Letzteres hat er mit 12 Darstellern seiner eigenen Gruppe jetzt wieder
       aufgenommen, statt von einem Orchester von einer Klavierbearbeitung zu vier
       Händen begleitet. Gemeinsam mit einem neu geschaffenen „Petruschka“ kommt
       der neue Strawinsky-Abend kurz nach der Premiere im Londoner Sadler’s Wells
       in Wolfsburg beim Festival Movimentos heraus, einem der Koproduzenten neben
       Galway, Brisbane und Melbourne.
       
       Den Strawinsky-Abend entwickelten sie zunächst in einem Dorf in Serbien,
       dann im westirischen Galway, wo ich sie besuchte. Dort verschanzten sie
       sich im Black Box Theatre, das nichts anderes ist als eine große Lagerhalle
       am Ende eines noch größeren Parkplatzes. Einsamer kann man mitten im
       Städtchen nicht sein – und das hat ihnen gutgetan.
       
       ## Männer mit Hundeköpfen
       
       Aus dem heidnischen Russland des „Frühlingsopfers“ wird ein irisches Dorf
       mit rätselhaften Ritualen aus Schäbigkeit und Glorienschein. Männer mit
       Hundeköpfen umzüngeln das Opfer, ein weiblicher Hohepriester treibt die
       Ekstase an, und am Schluss bricht die Welt zusammen, auf dass der Frühling
       sie reinigen und erlösen möge.
       
       Sehr überraschend ist danach der „Petruschka“ zu Vierhandklavier- und
       Trommelbegleitung – der große Storyteller Keegan-Dolan erzählt keine
       Geschichte mehr, weder die von Petruschka, Ballerina und Mohr, noch die von
       der Bosheit der Provinz. Alles ist licht und hell und reiner Tanz – und
       Frau Hohepriester schaut von einem Telegrafenmast zu. Vielleicht ist dies
       ja der Frühling in aller Unschuld und Pracht?
       
       ■ „Le Sacre du Printemps“ und „Petruschka“, Movimentos Festival, Wolfsburg,
       26.–28. April
       
       23 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Renate Klett
       
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