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       # taz.de -- Rebellen in Syrien: Die Herren des Schutts
       
       > Vor acht Monaten ging Aleppos Altstadt in Flammen auf. Heute hausen hier
       > die Rebellen. Der Basar, ihr Leben, liegt in Trümmern.
       
   IMG Bild: Iyad, 32, hat Familie und Freunde verloren. Jetzt ist er Heckenschütze im zerstörten Souk von Aleppo
       
       ALEPPO taz | Erschöpft, grau von Staub, schlängelst du dich zwischen den
       kein Ende nehmenden Sandsäcken durch, die vor den Heckenschützen Zuflucht
       gewähren. Wann kommen wir an, fragst du, die Nerven liegen blank, ist es
       noch weit? Und jetzt erst verstehst du diesen Krieg; als Alaa dir inmitten
       dieses Nichts sagt: Wir sind da.
       
       Denn von den alten Souks in Aleppo, den wohl bezauberndsten 4.000
       Quadratmetern des ganzen Mittleren Orients, der berühmtesten
       Postkartenansicht Syriens, voller Stimmenwirrwarr und Farbgeschichten, ein
       Überfluss von Leben, ist nichts geblieben als das: Schutt. Beim Gehen
       versinkst du darin bis zu den Knöcheln, überall gekrümmte Stangen aus
       rostigem Eisen, Glassplitter, Metallbleche, von Kugeln durchsiebte und
       zerfetzte Rollläden. Staub und Steine. Sonst nichts. Wirklich nichts.
       
       Die Rebellen führen dich von Gasse zu Gasse, von Laden zu Laden, als seist
       du eine Touristin: Das ist der Baumwollmarkt, erklären sie dir, hier sind
       die Juweliere, rechts die Gewürze, dahinten die Silberschmiede. Aber dort
       gibt es nur Schutt. Hierhin kommt die Braut, um sich für ihre Hochzeit ein
       Kleid zu kaufen, sie zeigen auf irgendetwas Undefinierbares, und dort kann
       sie den Ring erwerben. Alle Verben im Indikativ Präsens – und du siehst
       nichts. Hier ist nicht einmal eine Ratte.
       
       Iyad ist 32 Jahre alt, eine geknickte Seele trotz seiner muskulösen Statur.
       Er ist von Beruf Schreiner. „Meine Werkstatt ist dort hinten an der Ecke“,
       sagt er, selbst wenn die Ecke nur aus einem zusammengestürzten Dach
       besteht, Mauerresten. Und auch wenn er jetzt ein Heckenschütze ist, zwei
       Stunden am Tag, jeden Tag, und er hier schläft, mit einer Matratze und
       einer Decke nahe an einem Türspalt.
       
       Sein Bruder ist tot, sein Vater ist tot, sein bester Freund, alle sind sie
       tot, seine zweijährige Tochter, im Handy hat er das Foto ihres im Blut
       liegenden Körpers, und jetzt ist er Heckenschütze, nichts anderes, zwei
       Stunden am Tag, hinter einem Schild aus Sandsäcken.
       
       ## Sonst noch was?
       
       Du starrst in das Loch, durch das er schießt, und die Helme der letzten
       Soldaten, die er getroffen hat, liegen noch mitten auf der Straße. Egal wie
       die Frage lautet, Iyad gibt immer die gleiche Antwort. Was spürst du,
       fragst du ihn, beim ersten Mal? Und er zeigt dir den Leichnam seiner
       Tochter, während ein Mann röchelt, der in Schussweite liegt, was glaubst du
       wohl? Und er zeigt dir den Leichnam der Tochter, und du fragst ihn: Wenn
       hier alles vorbei ist, was wirst du dann machen? Was für ein Syrien wird es
       künftig geben? Und nur der Leichnam der Tochter, nur das Blut, das sickert
       – bis er dir sagt: Wollen Sie sonst noch was wissen? Und er steckt sein
       Handy in die Tasche und fängt wieder an zu schießen.
       
       Sie sind 17, 18, 20 Jahre alt und haben diese leeren Augen, durch die man
       durchsehen kann, in denen man den ganzen Schutt ihrer Geschichte sehen
       kann. Seit acht Monaten kämpfen sie hier, eine Uhr auf einer Mauer ist um
       17.47 Uhr stehen geblieben, das war am 25. September und Aleppo ein
       Inferno, fast sekündlich gab es Explosionen, als die Altstadt von Aleppo,
       das UN-Weltkulturerbe, in Flammen aufging.
       
       Sie tigern herum zwischen den Schutthügeln, mit ihren Kalaschnikows,
       T-Shirts und Bart-Simpson-Socken, die in Militärstiefeln stecken: Das sind
       die neuen Herren von Aleppo, Jüngelchen, die gerade mal einen Abschluss in
       der Tasche, gerade erst einen Beruf erlernt haben – aber nun eine
       Kalaschnikow besitzen. Jetzt wittern sie die Macht.
       
       Nie wieder werden sie unbedeutend, niemand sein, wie unter Assad. Sie haben
       hier ihr Lager aufgeschlagen mit ihrem Feldkocher, einer Teekanne, ihrem
       Schlafsack, als befänden sie sich gerade auf Interrailtour. Mit ihnen zu
       reden ist zwecklos, man entlockt ihnen kein Wort, keine Gefühlsregung. Sie
       überwachen jeden Winkel; jeder Mauervorsprung hier hat seinen eigenen
       Checkpoint, seine eigenen Wachen.
       
       Sie patrouillieren durch die Straßen einer imaginären Stadt – „dies ist der
       beste Schneider von Aleppo“, sagen sie, obwohl es nur ein Haufen scharfen
       Blechs im Gewehrfeuer von Heckenschützen ist. Und wenn du dann in eine
       Insektenwolke trittst, weißt du, die du Aleppo kennst, dass sich darunter
       menschliche Überreste befinden müssen.
       
       ## Mit Videoüberwachung
       
       Schweigen, das vom Wasser erzeugt wird, das aus einem kaputten Rohr tropft;
       Licht, das einzig aus den Schießscharten einfällt. Die Gassen wie
       Kirchenschiffe, belauert von dunklen Schatten. Amar, 17, ist Schweißer,
       Hasan, 20, Mechaniker; sie hocken vor einem Fernseher, mit einer Pepsi, die
       Beine auf einem schiefen Überrest eines Tisches ausgestreckt. Du denkst,
       sie gucken al-Dschasira, doch als du zerstreut näher kommst, begreifst du
       schlagartig, dass es sich um den Monitor eines Videoüberwachungssystems
       handelt.
       
       Du dachtest, die Gefahr lauere hier nur hinter den Sandsäcken, aber nein,
       jemand beobachtet dich, jetzt in diesem Augenblick, jemand informiert
       jemand anderes über dein Eintreffen, man verfolgt dich: Es ist die
       Systematisierung des Todes hier, der Taylorismus des Krieges: der Übergang
       von der Tötung zur Eliminierung.
       
       Ab und an schwirrt ein Stück Stoff durch den Schutt, zwischen den Steinen
       umher, ein Stück Seife, ein Schuhabsatz, eine Schachtel Visitenkarten,
       illegale Eindringlinge – als treibe die Strömung Bruchstücke des einstigen
       Lebens nach oben. Von diesen Straßen soll nichts Lebendiges nach außen
       dringen, das ist eine Frage der Methode.
       
       ## Altmodischer Krieg
       
       Wo ein Granatmörser explodiert ist, schimmert an einem bestimmten Punkt
       etwas Goldenes. Ein Leuchter. Du senkst neugierig den Kopf, lugst zwischen
       den Sandsäcken durch, schlüpfst hinein: Du findest dich zwischen von Kugeln
       zerlöcherten Koranen wieder. Hier stand einmal die Große Moschee. Die
       Mauern sind vom Artilleriefeuer gezeichnet, die Kandelaber entwurzelt. Es
       gibt Inschriften, abgerissene Dekoration, Schattierungen von Rot auf dem
       Teppich, die jetzt Schattierungen von Blut sind.
       
       Von einem Pfeiler zum nächsten spannen sich dunkle Plastikplanen: Assads
       Heckenschützen befinden sich auf der anderen Seite des Hofes. Der Krieg von
       Aleppo ist hier ein Krieg nach Art des vergangenen Jahrhunderts, ein
       Schützengrabenkrieg, der mit Gewehren ausgetragen wird: Rebellen und
       Regimeanhänger sind sich so nah, dass sie sich gegenseitig beschimpfen,
       während sie aufeinander schießen.
       
       ## Körper um Körper
       
       An der Front kannst du es beim ersten Mal nicht glauben: Sie kämpfen mit
       diesen Bajonetten, die man aus Geschichtsbüchern kennt und von denen du
       dachtest, dass sie seit Napoleons Zeiten nicht mehr benutzt würden, und
       dies heutzutage, wo man Krieg mit Drohnen führt.
       
       Stattdessen bekämpfen sie sich hier Meter um Meter, mit diesen an Stöcken
       befestigten Klingen, zersetzt vom Blut, und weil es wirklich ein Kampf ist,
       Straße um Straße, Körper um Körper, streiten sich die streunenden Hunde
       draußen um einen Schienbeinknochen.
       
       Auch wenn sie nur Wächter eines Totenreiches sind, begrüßen sie dich mit
       dem Siegeszeichen, als posierten sie vor dem Kolosseum für ein
       Erinnerungsfoto, während sie doch in Wirklichkeit vor eingestürzten
       Minaretten und Bergen von sperrigem Blech stehen. Hier halten sie an.
       
       Eintritt verboten, sagen sie: Dieser Bereich ist Frauen vorbehalten. Und
       obwohl es nur die verkohlten Reste von etwas sind, von denen du auch nicht
       weißt, was sie sein könnten – während sie also Wache halten, hast du
       plötzlich eine Eingebung: Alles hier, zwischen den Geistern der Bräute, ist
       heiliger als das Leben.
       
       Es scheinen Gassen, Straßen, sie sind Die Straße von Cormac McCarthy (Roman
       des US-Autors, in dem ein Vater mit seinem Sohn durch ein
       postapokalyptisches Land wandert, Anm. d. Red.). Nicht einmal der Muezzin
       ruft noch zum Gebet: Er sucht Blutspender für die Verletzten des letzten
       Rakete, die vor einer halben Stunde niederging. Eine Maschinengewehrsalve
       reißt dich plötzlich raus – draußen beginnen sie wieder zu schießen. Das
       ist das einzige Lebenszeichen – draußen stirbt jemand. Jemand ist noch
       nicht gestorben.
       
       Aus dem Italienischen von Sabine Seifert
       
       23 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Francesca Borri
       
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