URI: 
       # taz.de -- Das Schlagloch: Mittelmäßige Muslimbrüder
       
       > In Ägypten fehlen Visionäre, die den Niedergang des Landes aufhalten.
       > Stattdessen wachsen Dummheit und Konformität.
       
   IMG Bild: Gegen Mittelmaß: Demonstrant gegen Präsident Mursi am 6. April in Kairo.
       
       Während ich dies schreibe, ist eine koptische Kathedrale in Kairo während
       einer Beerdigung von maskierten Bewaffneten angegriffen worden. Noch vor
       einem Jahr hätte ich nicht geglaubt, dass ich jemals einen solchen Satz
       über Ägypten schreiben würde. Natürlich hat es seit langem Attacken auf
       religiöse Minderheiten gegeben – etwa den schrecklichen Angriff auf die
       Kirche in Alexandria an Silvester 2010. Aber maskierte Bewaffnete, die mit
       Schnellfeuergewehren während einer Beerdigung um sich schießen? Das waren
       Probleme, die wir bisher aus dem Irak nach der US-Invasion oder aus
       Pakistan kannten.
       
       Der Haftbefehl gegen den berühmtesten Satiriker Bassem Youssef wegen der
       angeblichen Beleidigung von Präsident Mursi und dem Islam ist ein ebenso
       beunruhigendes Ereignis – nicht zuletzt, weil darin offenkundig wenig
       Unterschied zwischen beiden Anklagepunkten gemacht wird.
       
       Was ist mit Ägypten geschehen, nicht einmal zehn Monate, nachdem die
       Muslimbrüder die Macht übernommen haben? Im Folgenden werde ich Erfolge
       oder Misserfolge der Muslimbrüder in wichtigen Feldern untersuchen. Es gibt
       zwar Beobachter, die dies für nicht besonders sinnvoll halten. Sie finden,
       es sei unrealistisch, dass eine Übergangsregierung angesichts der sich
       verschlechternden Wirtschaft in einem polarisierten Land viel erreicht
       haben könne.
       
       So habe ich früher auch gedacht. Aber so unrealistisch es ist, anzunehmen,
       dass die Regierung die massiven Probleme Ägyptens gelöst haben könnte, ist
       es doch richtig aufzuschreiben, auf was sie sich konzentriert und was sie
       vernachlässigt hat.
       
       Reform des Innenministeriums: Das Innenministerium ist die berüchtigste
       Institution von Mubaraks Polizeistaat. Dessen Folter und Gewalt waren einer
       der Hauptgründe der ägyptischen Revolution. Aber eine Reform des
       Innenministeriums ist ausgeblieben, Folter ist heute wohl ein größeres
       Problem als zuvor.
       
       Wirtschaft: Die ägyptische Wirtschaft befindet sich im Chaos. Die
       Geldreserven sind nahezu aufgebraucht, weshalb die Regierung beim
       Internationalen Währungsfonds (IWF) um ein Darlehen ersucht hat. Um den
       IWF-Forderungen nachzukommen, muss die Regierung Austeritätsmaßnahmen
       zustimmen. Dazu gehört auch die Reduzierung der Benzinpreissubventionen,
       was zu Unruhen führen wird.
       
       ## Hass gegen Minderheiten
       
       Meinungsfreiheit: Bereits Präsident Anwar as-Sadat hat sich auf Deals mit
       den Islamisten eingelassen, die die Meinungsfreiheit in Ägypten
       gefährdeten. Der wichtigste war die Verfassungsreform von 1981, welche die
       Scharia zur Quelle der Gesetzgebung machte. Da die Islamisten nun an der
       Macht sind, ist die Meinungsfreiheit noch mehr in Gefahr. Die Behandlung
       von Bassem Youssef und die steigende Zahl von Fernsehpredigern, die
       ironischerweise oft sehr vulgär die Kritiker des Präsidenten angreifen,
       sind in dieser Hinsicht nicht ermutigend.
       
       Hass zwischen religiösen Gruppen: Der Hass zwischen religiösen Gruppen
       verschlimmert sich, und zwar sowohl wegen des Zusammenbruchs der
       öffentlichen Ordnung und der bösartigen Rhetorik einiger
       Salafistenprediger, die zu viel Sendezeit bekommen. Während Bassem Youssef
       vorgeladen wurde, sind Verbrechen gegen Kopten nicht verfolgt worden. Zudem
       hat die antischiitische Stimmung einen Höhepunkt erreicht – eine Spätfolge
       davon, dass Mubarak den sunnitischen Chauvinismus gefördert hat, um seine
       unpopuläre Unterstützung der antiiranischen Politik der USA, Israels und
       Saudi-Arabiens aufzufangen.
       
       Politische Repression: Die Tatsache, dass die lange verfolgte
       Muslimbruderschaft heute selbst an der Macht ist, zeigt die größer
       gewordenen politischen Freiheiten. Unglücklicherweise hat die Opposition
       keinen Vorteil daraus gezogen. Sie versagt bis heute darin, sich am
       politischen Wettbewerb erfolgreich zu beteiligen. Die Muslimbruderschaft
       ist wie das alte Regime sehr schnell dabei, Demonstrationen gegen sich als
       „vom Ausland gesteuert“ zu diffamieren. Nichtregierungsorganisation sollen
       jüngsten Meldungen zufolge gezwungen werden, sich staatlich registrieren zu
       lassen.
       
       Unabhängigkeit der Justiz: Der Oberste Verfassungsgerichtshof besteht
       vollständig aus Richtern, die von Mubarak ernannt wurden. Obwohl die
       Muslimbruderschaft einige Schritte unternommen hat, den Gerichtshof zu
       entmachten, ist seine Macht immer noch deutlich spürbar – insbesondere bei
       den Wahlen, die auf sein Geheiß nochmals auf Oktober verschoben wurden. Die
       Muslimbruderschaft möchte die Wahlen so schnell wie möglich abhalten, da
       ihr zurzeit eine Mehrheit der Sitze winkt. Der Gerichtshof will vermutlich
       genau deshalb die Wahlen später veranstalten.
       
       ## Ein Akt der Dunkelheit
       
       Es gibt einige andere Kategorien, in denen wir das heutige Ägypten
       analysieren können: Fragen der Infrastruktur, Verkehr, Müllentsorgung und
       natürlich Außenpolitik. Aber die obige Aufzählung reicht schon aus, um zu
       beurteilen, ob wir die Muslimbruderschaft für den Abwärtstrend des Landes
       verantwortlich machen können.
       
       Ägypten hat nach dem Sturz Mubaraks eine revolutionäre Regierung, die die
       Hoffnungen und Träume der seit langem leidenden Bevölkerung erfüllen soll.
       Die Muslimbruderschaft hat diese große Chance aber genutzt, um der
       Gesellschaft ihre Regeln aufzudrücken. Die Engstirnigkeit, die aus Aktionen
       wie dem Versuch, Bassem Youssef zu verhaften, spricht, ist eine Schande.
       Das Innenministerium und die Polizei nicht zu reformieren, ist Betrug.
       Protestierenden Frauen zu erklären, dass sie nicht in den öffentlichen Raum
       gehören, ist ein Akt der Dunkelheit.
       
       Das Beste, was man derzeit über die Muslimbruderschaft sagen kann, ist,
       dass sie mittelmäßig ist. Aber was wir heute in Ägypten brauchen, sind
       Visionäre. Großherzige und wagemutige Köpfe, die keine Angst haben, Risiken
       einzugehen und neue Wege zu gehen. Was wir derzeit erleben – Egoismus,
       Arroganz, Dummheit und das todlangweilige Grau in Grau der Konformität –,
       wird nichts dazu beitragen. Die wachsende Gewalt beweist es.
       
       14 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Eltantawi
       
       ## TAGS
       
   DIR Ägypten
   DIR Muslimbrüder
   DIR Kopten
   DIR Kairo
   DIR Mursi
   DIR Schottland
   DIR Mode
   DIR Ägypten
   DIR Husni Mubarak
   DIR Ägypten
   DIR Ägypten
   DIR Ägypten
   DIR Ägypten
   DIR Ägypten
   DIR Zehn Jahre Arabischer Frühling
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Debatte Separatismus: Das Empire stürzt in Schottland
       
       Im nächsten Jahr könnte sich der nördliche Teil Großbritanniens abspalten.
       Dann wäre die britische Kolonialgeschichte endgültig beerdigt.
       
   DIR Kolumne Das Schlagloch: Jung bleiben ohne Chanel
       
       Mit geplanter Obsoleszenz sorgt die Industrie dafür, dass ihr die Nachfrage
       nicht ausgeht. Mode ist doch eigentlich nichts anderes. Ich bin gegen Mode.
       
   DIR Prozesse gegen Husni Mubarak: Freilassung ohne Freiheit
       
       Im Prozess um die Tötung von Demonstranten hat ein ägyptisches Gericht die
       Freilassung des Ex-Präsidenten Mubarak verfügt. Wegen anderer Verfahren
       bleibt er aber in Haft.
       
   DIR Justiz in Ägypten: Hosni Mubarak erneut vor Gericht
       
       Am Samstag beginnt das Revisionsverfahren gegen den Ex-Präsidenten. Es geht
       um seine Rolle beim Tod von 800 Demonstranten während des Aufstandes.
       
   DIR Kopten und Muslime in Ägypten: Gewalt nach Totenmesse
       
       Bei Auseinandersetzungen rund um die koptische Kathedrale in Kairo werden
       erneut zwei Personen getötet und über achtzig verletzt.
       
   DIR Zwei Jahre nach dem Sturz Mubaraks: Keine Versöhnung
       
       In der Hafenstadt Port Said herrschen Empörung über die harten Urteile im
       Fußballkrawall-Prozess, Rachegefühle und Misstrauen gegen Polizei und
       Regierung.
       
   DIR Unruhen in Ägypten: „Ihr Wahnsinnigen!“
       
       Bislang herrscht Konsens: Der Suezkanal ist tabu für Demonstranten. Das
       könnte sich ändern. Am Sonntag wurde erstmals der Fährverkehr gestört.
       
   DIR Schlagloch Ägypten: Heldinnen werden gelöscht
       
       Die Muslimbrüder zensieren jetzt die Schulbücher. Frauen werden aus der
       Geschichte und dem Gedächtnis gelöscht. Muss ich umdenken?
       
   DIR Das Schlagloch: Panik und Erlösung
       
       Ägypten arbeitet gerade seine Geschichte der Spaltung und Verfolgung auf.
       Trotz vieler Proteste gegen Präsident Mursi wird es keinen Bürgerkrieg
       geben.
       
   DIR Debatte Arabellion: Wo ist der arabische Traum?
       
       Die Arabellion ist in großen Schwierigkeiten. Das liegt nicht zuletzt an
       der Stärke der Islamisten. Und an der Schwäche aller anderen