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       # taz.de -- Die Wahrheit: Das Tor zur Welt
       
       > Die Leistung des Dampfradios für den musikalischen Geschmack der
       > Nachkriegsgenerationen wurde oft besungen. Aber was ist mit der „Heavy
       > Metal Show“?
       
   IMG Bild: Beim rumpelnden Debüt von Twisted Sister lachte er ausgelassen. Das schaffte Vertrauen
       
       Was das Dampfradio für die musikalische Geschmacksbildung der ersten
       Nachkriegsgenerationen geleistet hat, ist oft besungen worden. Die
       Moderatoren besaßen Legendenstatus und wurden genauso verehrt wie die von
       ihnen gespielten Künstler. Wer gern mal sehen möchte, wie
       Musik-Connaisseurs in Frührente zu nostalgisch derangierten, emotional
       ausblutenden, larmoyanten Wracks mutieren, der muss ihnen gegenüber nur den
       Namen John Peel fallen lassen. Der Rest ist ein Selbstläufer.
       
       Was aber … düster-dramatischer Powerchord, Sololauf in die höchsten Skalen,
       aufkreischendes Bending, das ins Feedback wegkippt … TONY JASPER am
       Dienstagabend um 22:00 Uhr in seiner unverzichtbaren, gerade mal
       einstündigen „Heavy Metal Show“ für die Versorgung der angefixten Teens in
       den 80er Jahren getan hat, das ist in vollem Umfang noch gar nicht
       gewürdigt worden. Vor allem die Landjugend in der norddeutschen Tiefebene
       hätte ohne Jasper gleich einpacken können.
       
       Der Bus zur Schule fuhr gegen sieben. Man musste früh raus, wenn man vorher
       noch ein paar Pickel ausdrücken wollte. Die Zeit war nicht unchristlich,
       sie war satanisch. Insofern lief die „Äitschemshow“, wie sie Jasper selbst
       immer gern bezeichnete, eigentlich zu spät für uns. Man haute sich
       tunlichst hin um zehn, um nicht vollends zu verzweifeln an der halb sechs
       klingelnden Drecksau von Wecker.
       
       Eine so tödliche, wirklich jeden Lebensmut raubende Müdigkeit habe ich
       später nie wieder gespürt. Man konnte in jenen Zeiten, am segensreichen
       Wochenende, zwölf bis vierzehn Stunden am Stück ohne Rückenschmerzen und
       Wimpernzucken wegratzen, um sich danach gleich an den Mittagstisch zu
       setzen und als erste Mahlzeit des schon ziemlich alten Tages zwei
       Rindsrouladen mit vier Kartoffelknödeln und Rotkohl zu verdrücken.
       
       „Junge, Junge, wo du das alles lässt?“, wunderte sich die Mutter oft. „In
       den Taschentüchern“, hätte ich antworten können. Aber das war nicht der
       Kommunikationsstil, der in meiner Familie gepflegt wurde. Ein guter Freund,
       beide Eltern Lehrer, erzählte mir in jenen Jahren, seine Mutter habe ihn
       mal „dabei“ erwischt. „Oh“, habe sie gut gelaunt gerufen, „spielst du schon
       wieder Huckemännchen?!“ Ich war froh darüber, wie man bei uns das Thema
       anging. Mit schweigendem Achselzucken nämlich.
       
       Tony Jasper wusste übrigens ziemlich genau, mit wem er es zu tun bekam. Er
       beendete jede seiner Sendungen mit der freundlichen Ermahnung: „Don’t
       forget to change your clothes!“ Tatsächlich war er so etwas wie ein
       größerer Bruder für uns. Jasper hatte alles Wichtige gehört, sich aber
       durch seine stupende Kenntnis den juvenilen Enthusiasmus nicht kaputt
       machen lassen.
       
       Als er Twisted Sister für uns entdeckte, das noch etwas rumpelnde Debüt
       „Under the Blade“, den Song „Shoot ’Em Down“ ganz ausspielte, bei dem am
       Ende der ursprünglichen Pressung eine gute alte Tommy Gun ihre Arbeit sehr
       effektiv verrichtet, da lachte er so dröhnend und ausgelassen, dass wir
       wussten, er fand das genauso klasse wie wir. So etwas schafft Vertrauen.
       
       Was Jasper überdies zu einem von uns machte, war seine Aufgeschlossenheit
       gegenüber dem Underground. Bald fing er nämlich auch an, Demos zu
       präsentieren, durchaus solche von eher heikler Soundqualität. Und
       spätestens als er irgendwann Steeltower spielte, eine Band aus der nahen
       Volkswagenstadt, gab sich unsere junge Chaotentruppe, die sich selbst
       gerade im Übungskeller die Hornhaut an den Fingern erschuftete, gewissen
       Hoffnungen hin, irgendwann von ihm entdeckt zu werden.
       
       Aber auch wenn es nie dazu gekommen ist, Tony Jasper hat sich seinen Platz
       in unserer Ahnengalerie mehr als verdient. Bis 1983 das erste
       deutschsprachige Spartenmagazin Aardschok erschien, etwas später dann Rock
       Hard und schließlich Metal Hammer, von den vielen liebevoll-handkopierten
       Fanzines jetzt mal abgesehen, bis sich also langsam so etwas wie eine
       Metal-Infrastruktur herausbildete, war Tony Jaspers „HM Show“ unser Tor zur
       Welt.
       
       12 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Schäfer
       
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