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       # taz.de -- Vom Ende der klaren Geschichten: Das Würstchen Wahrheit
       
       > Wer Gewissheiten verkaufen muss, hat es schwer in einer Zeit, in der
       > Antworten nichts gelten. Die neue ChefIn des „Spiegels“ ist nicht zu
       > beneiden.
       
   IMG Bild: Bangen gemeinsam um verlorene Schäfchen: Armutpapst und Merkelmutti.
       
       Wer könnte den Spiegel besser führen: der Papst oder Angela Merkel?
       
       Erfahrungen haben sie beide in der wichtigsten Disziplin für dieses Amt:
       den Sieger auf einem Felde zu geben, das keine Sieger kennt. Ein Mehr zu
       suggerieren, wo es weniger wird.
       
       Denn wir wissen doch, dass den Spiegel – egal wer diesen leitet – nicht
       mehr Leute lesen werden, ebenso wenig wie sich mehr Leute für Parteien und
       von ihnen gemachte Politik interessieren werden oder für die Kirche.
       
       Religion, Politik, Medien mit großer Ansage – Betriebe, die ihr Geld damit
       verdienen, den Wust Wirklichkeit zur Wurst Wahrheit zu verarbeiten, zu der
       einen Geschichte, die erzählt werden soll – sie verlieren rapide an
       Kundschaft. Krisekrise, Anneliese – die Gewissheitsindustrie hat ein
       Absatzproblem.
       
       Vielleicht deshalb, weil die Damen und Herren Konsumenten – insbesondere
       die in ihren 30ern und jünger – sehr gut wissen, dass sie nichts wissen:
       Sex ist Arbeit, hässlich ist schön, all diese Wirklichkeiten im Internet.
       
       ## Die gesundgeschrumpfte Generation
       
       Vor allem das große Versprechen, es werde ihnen mal besser gehen als ihren
       Eltern, ist dahin, die Mittdreißiger sind die gesundgeschrumpfte
       Generation. Sie müssen ihre eigene Herabstufung trotzdem so gut wie möglich
       als Erfolg verkaufen. Darin verstehen die potenziellen Käufer die Verkäufer
       sehr gut – man entfremdet sich trotzdem. Ratlose, die Ratlosen Rat andrehen
       – solche Ware will schon wohlverpackt sein.
       
       Deshalb entscheiden Stilfragen: Armutspapst und Muttimerkel, wie vergrault
       man die wenigsten und greift im Schrumpfen noch die meisten Leute ab? Wer
       tanzt am schönsten seinen Namen?
       
       Eigentlich der Moment, in dem ein neues Produkt hermüsste – soll der
       Kapitalismus nicht genau das gut können? Angebot, Nachfrage – da war doch
       was. Bernd Schlömer und seine Piratenpartei haben es versucht. Sie hatten
       kurz Erfolg damit, statt der unverkäuflichen Antworten die Fragen
       feilzubieten. Dann schmierte erst das Marketing ab und dann der Rest. An
       blöde, weil ihrem Wesen nach vereinfachende, Antworten mochten die Menschen
       zwar nicht mehr glauben. Aber dumme Fragen hatten sie selbst auch schon
       genug.
       
       Auch bei den noch erfolgreichen Medien geht der Trend zum Fragenden, zu
       weniger Gewissheit, zur Ansicht. Die Wochenzeitung Zeit wächst immer noch –
       sie spart sich so gut wie jede Ansage, die über den Minimalkonsens im Lande
       hinausgeht. Dafür spricht mehr das „Ich“ – der subjektiv erzählte Text will
       nicht das Große, Abschließende. Er will nicht das Ende der Geschichte sein.
       Er zeigt eine Perspektive, die ihre eigene Wahrheit birgt, das mag in der
       nächsten Ausgabe schon eine andere sein.
       
       ## Ironie und so
       
       Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung – ebenfalls gut im Geschäft –
       verkauft Feinsinn, sie stellt sich ganz an den Rand des Alltäglichen,
       schaut ihm sinnierend zu und gießt das in schöne Worte. Sie macht sich
       nicht gemein mit dem Übel der Welt, sie schaut es mit hochgezogener
       Augenbraue fragend an. Ironie und so. Hier spricht ein Bohemien, ein Dandy.
       
       Fin de Siècle hieß das einst, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts
       – eine Zeit, in der alles zu zerfallen schien, der erste Weltkrieg stand
       bevor. Nicht wenige sehnten ihn herbei, damit er dem Ungewissen, dem
       Zerfall überkommener Wahrheiten ein Ende mache. Etwas Neues sollte an deren
       Stelle treten. Der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr – sein
       Novellenband „Fin de Siècle“ erschien 1891 – schrieb in seinen Tagebüchern:
       „Unser Unterricht besteht ja darin, uns das Fragen abzugewöhnen, durch
       Antworten, mit denen wir nichts anfangen können.“
       
       Mit beiderlei Werkstoff wird derzeit noch hantiert – trotz
       Materialermüdung. Wer auch immer den Spiegel künftig leiten wird, er oder
       sie muss ebenfalls damit arbeiten. Darum ist niemand zu beneiden.
       
       10 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Schulz
       
       ## TAGS
       
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