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       # taz.de -- Die Wahrheit: Ein Lied für die Mauer
       
       > Die East Side Gallery wird mehr und mehr zu Berlins neuem Sprungbrett für
       > abgehängte Künstler und Promis.
       
   IMG Bild: Ist das hier Protest oder Party? Egal, der abgehalfterten D-Prominenz kommt jeder Anlass gelegen.
       
       Berlin hat wieder eine richtige Protestbewegung. Hunderte Menschen
       versammeln sich seit Wochen immer wieder an der East Side Gallery in
       Friedrichshain, um den Abriss des über einen Kilometer langen
       Restmauerstreifens zu verhindern. Stadtteilaktivisten, Autonome,
       Bürgerrechtler, Discobetreiber, Politiker von Piraten bis zur Jungen Union,
       Touristen und Schaulustige sind sich darüber einig, dass dieses „nationale
       Denkmal der deutschen Geschichte“ erhalten werden muss.
       
       Die Information, dass gar kein Abriss stattfinden soll, sondern nur eine
       zeitlich befristete Umsetzung der Mauerteile, machte die Protestbewegung
       nur noch stärker. Denn auch den Bau eines Hochhauses und einer Brücke über
       die Spree zur Kreuzberger Seite möchten die Protestler verhindern. Die
       Rasenfläche, die sich derzeit auf dem ehemaligen „Todesstreifen“ befindet,
       soll auch künftigen Generationen vor Augen führen, welches Leid sich an
       diesem Abschnitt ereignet hat.
       
       In einem Bürgerentscheid hatten sich die Kreuzberger und Friedrichshainer
       bereits 2008 gegen eine Bebauung des Spreeufers ausgesprochen, Bekanntlich
       sprechen sich ja überhaupt 97 Prozent der Berliner gegen jegliche Bebauung
       mit irgendwas aus. „Wir leben hier in der größten Stadt Deutschlands, da
       kann man doch nicht einfach überall Häuser hinbauen!“, lautet ein beliebtes
       Credo.
       
       Immer mehr Einwohner möchten nach neuesten Umfragen, dass alles so
       wiederhergestellt wird, wie es 1989 war, um sich an jedem Ort der Stadt
       angemessen erinnern zu können. Ein beachtlicher Teil will sogar den Zustand
       von 1945 zurück, um dann die Miete zu mindern. Andere geben an, einfach
       wieder nach Osnabrück zu wollen. Sie alle eint die Ablehnung einer
       übertriebenen Veränderung der Stadt, die Wut über die Herausnahme von
       Mauersegmenten ausgerechnet durch israelische Investoren und die gemeinsame
       Jagd nach Autogrammkarten.
       
       Denn auch Prominente setzen sich für die Forderungen der Demonstranten ein.
       Während der alternde Ex-Serienstar David Hasselhoff von einem
       stadtbekannten Lkw der Berliner Protestszene herunter immer wieder seinen
       einstigen Deutschlandhit „Looking for Freedom“ anstimmte, meldete sich per
       Zeitung auch Reinhard Mey zu Wort und machte sich für den Mauerrest stark.
       Bei der East Side Gallery gehe, so Mey, wie immer in Berlin alles daneben.
       
       Mey ist bereits damit beschäftigt, seinen Song „Über den Wolken“ in
       „irgendwas mit Mauer“ umzudichten, um für seinen baldigen Auftritt an der
       East Side Gallery gerüstet zu sein, den wiederum David Hasselhoff
       organisieren möchte. Ein großes Open Air unter dem Motto „Die Mauer ist ein
       Stück Lebensqualität“ soll das Bauwerk mit den großen Wandbildern, die den
       Vergleich mit Einsendungen für einen Grundschul-Malwettbewerb nicht scheuen
       müssen, endgültig retten.
       
       Gleichzeitig wird Musikern und Künstlern ein Forum geboten, die wie
       Hasselhoff und Mey den Anschluss verpasst haben. Ob zu unbekannt fürs
       Dschungelcamp, zu dumm fürs Fernsehen oder zu rechtsradikal für die
       Echo-Verleihung, am „last piece of the Berlin Wall“ (David Hasselhoff) ist
       jeder Künstler willkommen.
       
       Interesse angemeldet haben schon Udo Lindenberg mit seinem Hit „Bis zum
       Todesstreifen und nicht weiter“, die Gebrüder Blattschuss mit „Kreuzberger
       Mauern sind lang“ und Nina Hagen, die dem verhassten Projekt mit
       Voodoostrahlen aus einem Ufo den Garaus machen möchte. Doch schon die bloße
       Erwähnung von Namen wie Heinz Rudolf Kunze, Die Scorpions oder Xavier
       Naidoo würde genügen, selbst den hartnäckigsten Investor in die Knie zu
       zwingen.
       
       Die Proteste gehen also weiter, und neue Demonstrationen für das
       Brandenburger Tor, die Siegessäule und das Café Kranzler sind bereits in
       Planung. Denn auch das ist der neue positive Patriotismus hierzulande:
       Während ganz Europa geschlossen gegen Deutschland demonstriert,
       demonstrieren die Deutschen lieber für Bahnhöfe, Mauern und Todesstreifen.
       
       9 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gregor Mothes
       
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