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       # taz.de -- Schutz der Privatsphäre beim taz.lab: Die Krise des Eros
       
       > Bedacht, aber ereifert. Der Autor Byung-Chul Han spricht über das
       > Verschwinden des Anderen und den Terror der Intimität. Er wünscht sich
       > das Pathos der Distanz.
       
   IMG Bild: Byung-Chul Han - Er plädiert für den Schutz der Privatsphäre
       
       taz.lab: Herr Han, seit Februar strahlt RTL die Show „7 Tage Sex“ aus.
       Paare verpflichten sich dazu, eine Woche lang an jedem Tag miteinander Sex
       zu haben - mit dem Ziel, verlorengegangene Nähe wiederherzustellen. Warum
       gibt es eine solche Sendung? 
       
       Byung-Chul Han: Das ist eine weitere Art von „Big Brother“. Solche
       Sendungen verstärken die Tendenz der Gesellschaft, Intimitäten auszustellen
       und zu veröffentlichen. Da kann man fast vom Terror der Intimität sprechen.
       Heute ergießen sich die Intimitäten in den entleerten öffentlichen Raum.
       Ja, die Intimitäten entleeren den öffentlichen Raum. Anstatt die
       verlorengegangene Nähe wiederherzustellen, zerstören solche Unternehmungen
       sie ganz.
       
       Die Paare führen über diese Woche hinweg ein Videotagebuch. Welche Funktion
       hat die Begleitung durch die Kamera? 
       
       Vielleicht erleben wir heute Nähe nur dann, wenn wir sie für den Blick der
       anderen ausstellen. Wir müssen erst eine Kamera aufstellen, um überhaupt
       die Nähe, die sexuelle Lust empfinden zu können. Sie ist dann eine
       pornografische Lust. Eine ganz andere Nähe bringt dagegen ein Vers von Paul
       Celan zur Sprache: "Du bist so nah, als weiltest du nicht hier." Diese
       verhaltene Nähe verschwindet heute im Zuge totaler Abstands- und
       Distanzlosigkeit.
       
       RTL preist das Format als „neue Form der Paartherapie“. 
       
       Der voyeuristische, pornografische Blick wird keine Heilung herbeiführen.
       Er verschärft die Krankheit. Vor jeder Paartherapie sollten wir unsere
       Gesellschaft therapieren. Heute brauchen wir eine Psychoanalyse der
       Gesellschaft.
       
       Ihre Bücher tragen die Titel „Müdigkeitsgesellschaft“ und
       „Transparenzgesellschaft“. Die genannte TV-Sendung begegnet dieser
       Müdigkeit mit noch rastloserer Aktivität und dem Übermaß an Transparenz
       damit, nun auch noch das Schlafzimmer auszuleuchten. Ist das nicht absurd? 
       
       Bald wird man sogar eine Kamera im Sarg installieren und der Leiche bei der
       Verwesung zuschauen. Kürzlich war ich auf einem Friedhof. Da waren
       individualisierte Grabsteine zu sehen, eine Art Facebook-Gräber. Wäre es
       nicht denkbar, dass wir bald im Grabstein einen Screen einbauen und dort
       die ganze Timeline laufen lassen? Jedes Grab wird laut über sein Leben
       erzählen. Dann drücken die Friedhofsbesucher auf den Gefällt-mir-Button.
       Eine neue Form der Erlösung, eine neue Unsterblichkeit der Seele. Facebook
       ist ja bereits eine Kirche.
       
       Sie sagen: Unsere Selbstbezogenheit erschöpft uns. Aber ist es nicht so,
       dass wir immer schauen, was die anderen tun? 
       
       Man nimmt die anderen nur auf sich selbst hin wahr. Der Eros ist eine
       andere Wahrnehmung. Er reißt mich aus mir heraus. Daher kann er mich von
       der Depression befreien. In der Depression bin ich hoffnungslos in mich
       selbst verwickelt, ohne jeden Ausgang, der mich zum Anderen befreien würde.
       Wir ersticken unter der Bürde des Selbst-sein-können-Müssens.
       
       Das erotische Begehren wird zerstört, der Andere als mein Gegenüber
       verschwindet. Das klingt ziemlich apokalyptisch. 
       
       Dieser Apokalypse würde ich eine andere Apokalypse entgegenstellen, die in
       „Melancholia“ von Lars von Trier filmisch dargestellt ist. Justine lebt in
       dem Moment auf, als der Andere ihr in Form des tödlichen Planeten
       erscheint. In seinem blauen Licht am Flussfelsen räkelt sie sich voller
       Wollust. In diesem Moment erklingt das Präludium von „Tristan und Isolde“.
       Heute ist der Andere nur in Form einer Apokalypse erfahrbar.
       
       Wie finden wir zu echter Nähe? 
       
       Durch mehr Ferne. Not täte heute das Pathos der Distanz. Allein mit ihm
       könnte man den Terror der Intimität bekämpfen.
       
       Sophie Fedrau und Byung-Chul Han hielten sich voneinander fern. Sie
       bevorzugten, das Gespräch per Mail zu führen.
       
       3 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophie Fredau
       
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