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       # taz.de -- Selbstmanagement und -vermarktung: „Du musst es wollen, Baby!“
       
       > Die neuen Konzepte in Schule und Beruf werden unter den Stichwörtern
       > Mitbestimmung und Selbstverwirklichung angepriesen. Doch vieles ist nur
       > Schein.
       
   IMG Bild: Größer, weiter, schöner: Du musst nur deinen inneren Schweinehund überwinden - Germany‘s next Topmodel 2010.
       
       BERLIN taz | Die Anforderungen an die Arbeitenden haben sich in den letzten
       Jahren dramatisch verändert: Statt rigider Unterwerfung unter vorgegebene
       Arbeitsrituale ist Anpassung an die Vorgaben des Marktes gefragt.
       Eigeninitiative, Wettbewerbs- und Kundenorientierung, Selbstmanagement und
       Selbstvermarktung heißen die modernen Arbeitstugenden.
       
       Der Soziologe [1][Ulrich Bröckling] von der Universität Freiburg hat
       hierfür den Begriff des „unternehmerischen Selbst“ geprägt. Wie die damit
       einhergehenden Techniken der Subjektivierung auf Bildungs- und
       Sozialisationsprozesse übergreifen, war das Thema einer Tagung, die Anfang
       März an der Freien Universität Berlin stattfand.
       
       Die von der [2][Neuen Gesellschaft für Psychologie] unter dem Titel
       [3][“Machtwirkung und Glücksversprechen“] organisierte Tagung spielte auf
       die beiden Pole an, zwischen denen sich Bildung in der bürgerlichen
       Gesellschaft bewegt: Einerseits dem Versprechen auf ein besseres Leben,
       andererseits der Rationalität der Macht, denen die Bildenden im Prozess der
       Bildung unterworfen sind.
       
       Dabei konstatierte der Berliner Psychologe [4][Christoph Bialluch] einen
       Wandel von repressiven zu „produktiven“ Techniken der Macht. So setzten
       sich Methoden, bei denen sich die Betroffenen verpflichteten, bestimmte
       Ziele zu verfolgen und sich dabei selbst zu kontrollieren, immer mehr
       durch.
       
       Wie dieses Konzept in der Schule umgesetzt wird, machte der Kinder- und
       Jugendlichentherapeut Uwe Findeisen deutlich. Unter dem Vorwand, dass sie
       den Schülern eine individuellere Art des Lernens ermöglichen,
       transportieren manche alternativen Lernmethoden neoliberale Techniken der
       Selbstformierung in den Unterricht.
       
       ## Mitbestimmung und Benotung
       
       Exemplarisch lässt sich das an der Arbeit mit Portfoliomappen zeigen, die
       als neue Art der Leistungsbewertung dienen. Dabei stellen SchülerInnen eine
       Auswahl ihrer Arbeiten zusammen und wirken gleichzeitig bei der Festlegung
       der Beurteilungskriterien und der Einschätzung der eigenen Leistung mit.
       Damit soll eine stärkere Mitbestimmung der Lernenden ermöglicht werden.
       Letzten Endes bestimmen aber die Lehrenden, wie das Portfolio benotet wird.
       
       Ähnliche Prozesse scheinbarer Selbstevaluation finden sich auch in einer
       Sphäre, die man gemeinhin nicht mit Bildung assoziiert: Auch in
       Castingshows werden die Kandidatinnen und Kandidaten permanent
       aufgefordert, die eigene Leistung zu bewerten. Dies gilt auch für die
       Model-Castingshows, die die Berliner Erziehungswissenschaftlerin [5][Andrea
       Nachtigall] untersuchte.
       
       Sie bieten ihren Rezipientinnen, meistens Mädchen in der Pubertät oder
       Vorpubertät, Rollenmodelle zur Ausformung der eigenen Identität. Zwar
       bedienen sie traditionelle Geschlechterstereotype, so müssen die
       Kandidatinnen schön, schlank und heterosexuell sein, gleichzeitig zeigen
       sie aber scheinbar einen spezifisch weiblichen Weg zu beruflicher
       Professionalität. Gutes Aussehen allein genügt dabei nicht. Vielmehr wird,
       so Nachtigall, „die Arbeit am Ich als Weg zu einem neuen Leben“ vorgeführt.
       
       ## Schön. stark und erfolgreich
       
       So müssen die Kandidatinnen verschiedene „Challenges“, zum Beispiel
       Shootings in schwindelerregender Höhe oder Eiseskälte, bewältigen. Über das
       in Model-Castings vermittelte Versprechen, als Frau zugleich schön, stark
       und erfolgreich sein zu können, wird gleichzeitig eine neoliberale
       Leistungsmoral transportiert.
       
       Heidi Klums Parole „Du musst es wollen, Baby!“, suggeriert, dass der Traum
       vom beruflichen Aufstieg bei entsprechendem Einsatz jederzeit möglich ist.
       Wie in den von Bröckling beschriebenen Qualitätssicherungsprozessen großer
       Konzerne sind die Kandidatinnen dabei einem Rundum-Feedback ausgesetzt:
       Nicht nur die eigene Leistung, sondern auch die der Mitbewerberinnen wird
       ständig der Bewertung unterzogen.
       
       Dabei erwerben sie Kompetenzen, die auch jenseits einer Model-Karriere von
       manchen Arbeitgebern gern gesehen werden: zum Beispiel mit Konkurrenz
       umzugehen und demütigende Kommentare stumm zu ertragen.
       
       ## Kompetenz udn Atomangst
       
       Weitere Themen des Kongresses waren zum Beispiel Psychotherapieforschung,
       interkulturelle Kompetenz oder Atomangst, wobei sich das Thema Glück als
       roter Faden durchzog.
       
       Dass zu viele Handlungsoptionen eher unglücklich machen, zeigte der Beitrag
       von Josua Handerer, der über die „Quarter-Life-Crisis“ referierte und sich
       in einer Eigenanamnese „1982 geboren, ledig, Doktorand“ zugleich als
       Prototyp für das Störungsbild anbot. Er beschrieb die psychischen Nöte von
       knapp Dreißigjährigen, die oft kurz vor oder nach dem Ende ihrer Ausbildung
       eine dramatische Lebenskrise erfasst.
       
       Die Betroffenen plagen tiefsitzende Ängste, sich falsch zu entscheiden, und
       ein Selbstbild, das zwischen Größenfantasien und Kleinheitsgefühlen
       schwankt. „Anstatt unser Leben aktiv zu gestalten, befürchten wir es zu
       verpassen. Anstatt uns selbst zu verwirklichen, quält uns die Angst, uns zu
       verfehlen“, beschreibt Handerer den typischen Gemütszustand.
       
       ## Leistungsideale der Moderne
       
       Was als Luxusproblem von Langzeitstudenten und Viva-Moderatorinnen
       erscheint – auch [6][Sarah Kuttner] hat ein Buch zum Thema verfasst –, hat
       jedoch einen ernsten Hintergrund. Es zeigt die Kehrseite des
       unternehmerischen Selbst, das unter dem Druck der Ansprüche an die eigene
       Person zum „erschöpften Selbst“ mutiert, von dem der französische Soziologe
       Alain Ehrenberg spricht.
       
       Er versteht darunter eine Depression, die durch die Leistungsideale der
       Moderne ausgelöst wird. Dazu passt, dass depressive Störungen unter
       Schülern, Studierenden und jungen Erwachsenen stark zunehmen. Das könnte
       auch damit zusammenhängen, dass diese anders als ihre Vorgängergenerationen
       das neoliberale Credo „Du kannst es schaffen, wenn Du wirklich willst!“
       schon früh verinnerlicht haben.
       
       So wird Erfolg als persönliches Verdienst und Scheitern als persönliches
       Versagen verstanden. Mit einem solchen Erklärungsmuster sind jedoch
       Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit vorprogrammiert. Sie sind solchen
       Gefühlen viel stärker ausgesetzt als diejenigen, die glauben, dass
       Misserfolg auf äußere – zum Beispiel gesellschaftliche Ursachen –
       zurückzuführen ist.
       
       22 Mar 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.soziologie.uni-halle.de/broeckling/
   DIR [2] http://www.ngfp.de/
   DIR [3] http://www.ngfp.de/2012/06/cfp-kongress-2013/
   DIR [4] http://beides.org/beides/Christoph_Bialluch.html
   DIR [5] http://www.khsb-berlin.de/hochschule/personen/personenverzeichnis/l-n/nachtigall-andrea/
   DIR [6] http://www.sarahkuttner.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dagmar Schediwy
       
       ## TAGS
       
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