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       # taz.de -- Streit um East Side Galery: Berlin, die Mauer und das Mittelmeer
       
       > Die East Side Gallery bleibt erst mal stehen, doch weiterhin wird heftig
       > um die Zukunft des Spreeufers gestritten. Die Polizei hat den Investor
       > nicht gewarnt.
       
   IMG Bild: Auf der Spree fährt ein Schiff am Radialsystem vorbei.
       
       BERLIN taz | Dort, wo sie die Zukunft der Stadt verhandeln, ist es
       grässlich an diesem Montagabend. Die Holzmarktstraße – eine Betonwüste mit
       schmalem Fußgängerweg. Wer den entlangläuft, dem peitscht der Sturm
       Schneeregen ins Gesicht, die Spree ist von hier aus kaum zu sehen.
       
       Aber drinnen, im Radialsystem, schwärmt dessen Betreiber Jochen Sandig dann
       von den Abenden in Friedrichshain, am Wasser: „Wenn hier die Sonne
       untergeht, dann liegt Berlin am Mittelmeer.“ Das mag in diesem kalten März
       etwas schwer vorstellbar sein, aber jeder vergangene Sommer zeugt davon:
       Sandig hat recht.
       
       Doch zwischen Oberbaum- und Jannowitzbrücke fürchten viele um die Zukunft
       ihres Mittelmeers, wegen all der Eigentümerwechsel und Baupläne auf den
       Grundstücken, wegen des Zuzugs von Menschen, die ihr Geld lieber in den
       Kauf einer Eigentumswohnung als in die monatliche Überweisung von Miete
       investieren. So sitzen zwei Dutzend Aktivisten, Politiker und
       Immobilienunternehmer im Radialsystem um ein Viereck aus Tischen herum und
       hören den Einführungsvorträgen zu: ein Naturschützer spricht über die
       notwendige Renaturierung von Uferabschnitten, eine Stadtplanerin über den
       Rückbau der Holzmarktstraße zu Gunsten größerer Rad- und Fußgängerwege.
       
       Das Forum Stadtspree tagt zum zweiten Mal und sein Mitinitiator Volker
       Hassemer, früher Stadtentwicklungssenator für die CDU und heute Vorstand
       der Stiftung Zukunft Berlin, spricht natürlich nicht von irgendwelcher
       Furcht. Sondern von „Stadtrelevanz“. Es gehe dem Forum um die Frage: „Was
       ist dieses Gebiet im Interesse Berlins zu leisten im Stande?“
       
       Relevant ist diese Frage in der Stadt ziemlich schnell geworden, wenn auch
       mit Hilfe ihrer recht engen Fokussierung auf ein konkretes Grundstück: den
       ehemaligen Todesstreifen mit der East Side Gallery. Hier zwischen
       Mauerdenkmal und Spree will der Immobilieninvestor Maik Uwe Hinkel 36
       Eigentumswohnungen in einem Turm bauen. Das hat er beim ersten Forum Ende
       Januar vorgestellt, die Folgen sind bekannt: eine Online-Petition und
       Tausende Demonstranten gegen die Planung, internationale Schlagzeilen wegen
       Löchern im Mauerdenkmal, zuletzt ein Besuch David Hasselhoffs.
       
       ## Keine Polizeiwarnung
       
       Investor Hinkel ist dieses Mal nicht zum Forum Stadtspree gekommen, denn
       nun fürchtet er sich: Das Landeskriminalamt habe nach Mails mit Bedrohungen
       und Beschimpfungen von der Teilnahme abgeraten, erklärt ein Sprecher, der
       ihn am Montagabend vertritt. Stimmt gar nicht, sagt ein Polizeisprecher
       später der taz: „Wir waren sehr überrascht über diese Behauptung von Herrn
       Hinkels Sprecher.“
       
       Letzterer nutzt beim Stadtforum die Tagungspause, um Fernsehinterviews zu
       geben: „Wir wollen und wir werden bauen“, sagt er, 20 Wohnungen seien schon
       verkauft, „und die Kunden haben die Lage mitgekauft, sie wollen nach
       Friedrichshain-Kreuzberg.“ An der East Side Gallery werde nichts verändert,
       solange Gespräche über alternative Zufahrtswege mit Bezirk, Senat und dem
       Eigentümer des Nachbargrundstücks liefen.
       
       Doch ein Grundstückstausch wäre höchstens bis vergangenen Dezember denkbar
       gewesen. Das hatte Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos, für die SPD)
       damals abgelehnt. „Dieser Wohnungsturm würde an tausend andere Ecken
       passen, aber er passt nicht hierher nach Friedrichshain-Kreuzberg“, sagt
       Radialsystem-Chef Sandig. „Wir werden weiterkämpfen bis zum letzten Tag“,
       sagt Sascha Disselkamp von der Clubcommission.
       
       Die Clubcommission ist seit dem Jahr 2000 ein Zusammenschluss von
       Clubbetreibern und Partyveranstaltern und seit kurzem die treibende Kraft
       bei den Protesten zum Erhalt der East Side Gallery – beides hat viel
       miteinander zu tun. Denn es mag zwar durchaus sein, dass die Clubbetreiber
       aus einem historischem Verantwortungsgefühl heraus nicht mitansehen wollen,
       wie Neubauten das von Künstlern bemalte Mauerdenkmal in den Schatten
       stellen. Doch eigentlich geht es um viel mehr: um die Deutungshoheit, was
       „Stadtrelevanz“ an der Spree in Zukunft heißen soll.
       
       Für die Clubcommission heißt Stadtrelevanz: Yaam, Sage-Club, Radialsystem
       und bald auch das Holzmarkt-Projekt. Orte, die unbestritten Massen von
       Menschen in die Stadt locken, viele als Touristen, etliche als Neubürger.
       „Dieser Ort steht für den Aufbruch dieser Stadt und wir alle müssen
       gemeinsam ein Kulturforum von unten daraus machen“, ruft Sandig in die
       Runde.
       
       Für ein Kulturforum von unten gäbe es aber ein Problem: Neue Nachbarn, die
       der Stadtrelevanz folgen, in neue Wohnungen entlang des Spreeufers
       einziehen und schon bald die Polizei rufen, um ihr Recht auf Ruhe
       durchzusetzen. Das Problem ist altbekannt, nicht nur aus Prenzlauer Berg,
       sondern auch hier an der Spree: „Im Radialsystem dürfen wir nach 22 Uhr
       keine Veranstaltung im Außenbereich mehr durchführen“, sagt Sandig. Sonst
       griffen Nachbarn zum Telefonhörer. „Dabei könnten wir hier wie nirgendwo
       sonst für das Zusammenwachsen von Lebensformen sorgen, die eigentlich nicht
       zusammengehören.“
       
       Was er meint: das Holzmarkt-Experiment nebenan, Studentenwohnheim,
       Kleingewerbe, privater Club und öffentlicher Park nebeneinander,
       Spatenstich am 1. Mai. In etwa so stellen sich Sandig, Disselkamp und die
       anderen, die hier vor Jahren etwas begonnen haben, von dem sie und die
       Stadt heute ganz gut leben können, die Zukunft zwischen Oberbaum- und
       Jannowitzbrücke vor. „Wir sind jetzt nach langem Gegeneinander beim
       Nebeneinander angekommen“, sagt Sandig zu den Bauunternehmern und
       Politikern um sich herum. Jetzt gehe es darum, ein Miteinander zu finden.
       Die nächste Gelegenheit dazu ist im Juni, beim dritten und vorerst letzten
       Forum Stadtspree. Dann wäre es wohl nötig, dass die Unternehmer und
       Politiker ein paar mehr Worte zur Stadtrelevanz verlören.
       
       19 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Puschner
       
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