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       # taz.de -- Politisches Buch zur Finanzkrise: Wer Schulden hat, wird regierbar
       
       > Die Finanzkrise ein Paradoxum? Maurizio Lazzarato versucht in seinem
       > Essay „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ die Entwicklungen zu
       > erklären.
       
   IMG Bild: Nicht der Tausch oder die Kontrolle der Produktionsmittel, sondern das Schuldverhältnis sei der „Archetyp gesellschaftlicher Ordnung“.
       
       Als die Finanzkrise 2008 die Welt erschütterte, schien das Ende des
       Neoliberalismus eingeläutet. Selbst wirtschaftsnahe Zeitungen riefen nach
       politischer Kontrolle der Finanzmärkte, und so mancher Kommentator sah eine
       neue keynesianische Ära heraufziehen. Keine fünf Jahre später reiben wir
       uns verwundert die Augen.
       
       Die private Aneignung öffentlichen Reichtums hat sich im Rahmen der
       Bankenrettung weiter beschleunigt. Nicht die Macht der Politik über die
       Finanzmärkte, sondern umgekehrt die der Finanzmärkte ist ausgebaut worden.
       Anstelle eines Green New Deal beherrschen Austeritätsprogramme das Bild.
       
       Der italienische Theoretiker Maurizio Lazzarato unternimmt in seinem Essay
       „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ den Versuch, diese scheinbar
       paradoxe Entwicklung zu erklären. Lazzarato, wie Toni Negri als politischer
       Aktivist Ende der 1970er Jahre aus Italien nach Frankreich geflohen, geht
       von der These aus, dass Finanzspekulation und Schuldenexplosion nicht als
       Exzesse des Systems zu begreifen sind, die durch eine bessere Regulation
       verhindert werden könnten. Lazzarato fragt nach den Machtverhältnissen
       hinter den ökonomischen Kategorien.
       
       Schulden sind für ihn in diesem Sinne nicht das Ergebnis zu hohen Ausgaben,
       wie es der Diskurs über den „verschwenderischen“ Südeuropäer nahelegt,
       sondern ein „strategisches Dispositiv“, mit dem Machtverhältnisse (zwischen
       Gläubigern und Schuldnern) etabliert werden.
       
       ## Schulden sind kein einseitiger Mangel
       
       Die Erkenntnis ist banal, aber wird in der politischen Debatte konsequent
       ignoriert: Schulden können nicht einseitig als Mangel begriffen werden,
       weil ihnen auch immer ein Vermögen gegenüberstehen muss. Lazzarato verweist
       an dieser Stelle auf eine These von Deleuze/Guattari: Nicht der Tausch (wie
       in liberalen Theorien) oder die Kontrolle der Produktionsmittel (wie im
       Marxismus), sondern das Schuldverhältnis sei der „Archetyp
       gesellschaftlicher Ordnung“.
       
       Es begründe eine fundamentale Machtasymmetrie und sorge – durch die
       Verknüpfung ökonomischer Schulden mit der moralischen Schuld – für eine
       Subjektivierung der Ordnung. Die Besitzlosen sind keine Klasse mehr,
       sondern individualisierte Wirtschaftssubjekte, die Schuld auf sich geladen
       haben.
       
       Lazzaratos Essay ist schon allein deswegen bemerkenswert, weil er eine
       Brücke spannt, die von Marx über Nietzsche und Foucault bis zu
       Deleuze/Guattari reicht. Ökonomie wird als soziales Verhältnis
       entschlüsselt, dieses jedoch auf der inneren Ökonomie des modernen Subjekts
       begründet, das sich moralisch selbst erzieht. Lazzarato fragt nach den
       gouvernementalen Techniken der Führung und Lenkung in der (neo-)liberalen
       Gesellschaft und postuliert schließlich eine Zentralität des Geldes.
       
       ## Globale Lohnkonkurrenz
       
       Einige seiner Argumente wären für die politische Debatte sehr hilfreich. So
       hat er recht, dass der finanzgetriebene Kapitalismus nicht einfach als
       Fehlentwicklung verstanden werden kann. Dass die Kapitalmärkte – im Übrigen
       noch unter dem demokratischen US-Präsidenten Jimmy Carter – dereguliert
       wurden, war eine Antwort auf die tiefe Krise des Fordismus.
       
       Da es immer schwerer wurde, im Produktionsverhältnis selbst Gewinnzuwächse
       zu erzielen, suchte die Kapitalseite nach alternativen
       Akkumulationsmodellen. Die Deregulierung der Finanzmärkte bot hier einen
       Ausweg. Sie erleichterte Auslandsinvestitionen, setzte damit eine globale
       Lohnkonkurrenz in Gang und sorgte schließlich dafür, dass der in anderen
       Ländern erwirtschaftete Mehrwert als Gewinntransfer oder Anlage zurück in
       die globalen Finanzzentren floss.
       
       Recht überzeugend ist auch Lazzaratos These, dass der finanzgetriebene
       Kapitalismus für eine neue Regierbarkeit sorgt. Die ökonomischen
       Verhältnisse werden als moralische Schuld verinnerlicht und
       festgeschrieben. Der Kredit, der immer auch eine Wette auf
       Noch-nicht-Gewordenes ist, „verschließt das Mögliche, indem (er) sich in
       die Zukunft projiziert“.
       
       Eine solide Analyse des Neoliberalismus liefert der Essay nicht. Zu
       unsauber sind viele ökonomische Daten recherchiert, eine Debatte von
       Handlungsperspektiven fehlt völlig. Nichtsdestotrotz ein wichtiger Beitrag
       zeitgenössischer Gesellschaftskritik.
       
       20 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Raul Zelik
       
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