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       # taz.de -- 5-Sterne-Bewerbung in Italien: Wutbürger für Europa
       
       > Ein Informatiker, eine Lektorin und eine Stadträtin berichten, warum sie
       > „Grillini“ wurden. Die Zustimmung zur Bewegung wächst weiter.
       
   IMG Bild: Senator Andrea Cioffi (rechts im Bild) legt seinen Arm um M5S-Senator Stefano Lucidi, während der ersten Sitzung der Legislaturperiode.
       
       ROM taz | Verloren steht Pierlugi Bersani, Chef der gemäßigt linken Partito
       Democratico (PD), auf dem Flur des Abgeordnetenhauses. Seine Partei hat
       dort, in der ersten Kammer des Parlaments, die absolute und im Senat, der
       zweiten Kammer, immer noch die relative Mehrheit.
       
       Trotzdem interessiert sich kein einziger Journalist für Bersani.
       Stattdessen versammelte sich die Pressetraube am vergangenen Freitag, zur
       konstituierenden Sitzung, um einen anderen: um Roberto Fico, Kandidat der
       5-Sterne-Bewegung (M5S) für das Amt des Präsidenten des Abgeordnetenhauses.
       Fico hat zwar keine Chance, gewählt zu werden, doch seine M5S hat alle
       Chancen, die italienische Politik aufzumischen.
       
       Demagoge, Clown, Populist, Antieuropäer: Schnell bei der Hand waren die
       italienische und die europäische Presse mit der Erklärung für den
       sensationellen Erfolg des Komikers Beppe Grillo. Dessen Bewegung holte bei
       den Wahlen im Februar aus dem Stand über 25 Prozent, eroberte 109
       Abgeordnetenmandate und 54 Senatorensitze.
       
       Der Komödiant, der mit 64 in die Politik geht, um dann im Wahlkampf die
       One-Man-Show abzuziehen und so einen Haufen von ihm ferngesteuerter Nobodys
       ins Parlament zu entsenden: so ungefähr sollen wir den Erfolg der
       „Grillini“ sehen. Die Dinge waren aber nicht so einfach.
       
       ## Die Deutschen trennen ihr Glas
       
       Grillos Erfolg begann nicht auf den Piazze von Turin, Mailand oder Rom
       während seiner letzten Wahlkampftour. Er begann zum Beispiel in Barcelona,
       er begann mit der Übersetzung eines Buchs über nachhaltige Entwicklung –
       oder auch mit dem Kampf um ein denkmalgeschütztes Fabrikgebäude.
       
       Der frisch gewählte M5S-Abgeordnete Diego De Lorenzis erinnert sich noch
       gut an seinen Aufenthalt als Student in Barcelona im Jahr 2003. Hier traf
       er Spanier, Franzosen, Briten und Deutsche – kurz: andere Europäer. „Die
       Deutschen erzählten mir etwa, dass bei ihnen sogar nach weißem, grünem oder
       braunem Glas sortiert wird – und wir wissen nicht mal im entferntesten, was
       Mülltrennung ist.“
       
       Für Diego De Lorenzis, der heute mit seinen 33 Jahren genau dem
       Altersdurchschnitt seiner Fraktion entspricht, war bald klar: „In den
       anderen Ländern hat die Politik, hat der Staat einfach eine völlig andere
       Aufmerksamkeit für ihre Bürger als in Italien.“
       
       ## Was wollt ihr tun, damit sich Dinge ändern?
       
       Der Informatiker zählt all die Ärgernisse auf, die komplizierten
       Prozeduren, die nötig sind, um den Führerschein zu beantragen oder eine
       Bescheinigung vom Amt zu erhalten – „das sind die wirklichen
       Produktivitätsbremsen bei uns, nicht die Frage, ob die Pausen bei Fiat noch
       mal um 10 Minuten verkürzt werden!“
       
       Politisch aktiv war er damals nicht. Er beließ es bei bürgerlichem
       Engagement, ging in Kinderkrankenhäuser, mit einer Gruppe, die
       Clowntherapie machte, setzte sich als freiwilliger Sanitäter nach
       Büroschluss auf den Rettungswagen. „Dann sah ich Grillos Bühnenshow“,
       berichtet er.
       
       Nichts Spektakuläres – es ging zum Beispiel um Zahnbürsten, „um die Frage,
       wieso wir die immer komplett wegwerfen, statt bloß die Köpfe
       auszuwechseln“. Und regelmäßig stellte Grillo seinem Publikum auch die
       Frage: Was wollt ihr tun, damit sich die Dinge ändern?
       
       Selbst aktiv werden: das ist der wohl zentrale Impuls aller „Grillini“.
       „Politik nicht mehr delegieren“, sagt De Lorenzis dazu, „unser Desinteresse
       hat es den Politikern erlaubt, anzustellen, was immer sie wollten, und das
       noch mit unserer Zustimmung.“
       
       ## Die anderen haben keine Entwürfe
       
       De Lorenzis wurde 2007 im lokalen Meet-up der Grillo-Fans in Lecce aktiv,
       man tauschte sich auf der Internetplattform aus, traf sich einmal im Monat
       mit 10 bis 15 Gleichgesinnten, „aber der harte Kern waren fünf, sechs
       Personen“. Sie teilten die Utopie von einer Bürgergesellschaft, in der die
       Menschen die Dinge, die sie angehen, selbst in die Hand nehmen, angefangen
       bei der Gemeinde, „die ist schließlich das Haus jedes Bürgers“.
       
       Dass M5S jetzt im Parlament sitzt und sogar jede Regierungsbildung
       blockieren kann, liegt nach seiner Ansicht vor allem an Italiens
       Politikern, die zum Generationenwechsel nicht fähig seien, die „bloß auf
       kurzfristige Zustimmung schielen“, die keinerlei Entwurf für die Zukunft
       des Landes in der Krise haben.
       
       „Nehmen wir doch nur mal die Diskussion über die Einführung des Euro vor
       gut zehn Jahren, da haben alle nur über den Wechselkurs Lira/Euro
       debattiert und nicht über den tiefen Einschnitt, der damit für Italien
       anstand“, bilanziert er – und das ist noch das Antieuropäischste, was man
       ihm entlocken kann.
       
       Völlig unaufgeregt gibt sich auch Giusy Campo, im vergangenen Februar
       (nicht gewählte) Kandidatin für das Regionalparlament im Latium. Vor gut 30
       Jahren war die 55-Jährige zuletzt politisch aktiv, bei der linksradikalen
       Democrazia Proletaria. Dann konzentrierte sie sich auf ihren Job als
       Lektorin in einem wissenschaftlichen Verlag.
       
       ## Keine Grünen in Italien
       
       „Auf die Grillo-Leute stieß ich, weil die Ortsgruppe in Rom Übersetzer für
       einen Text von Lester Brown suchte, ’Plan B‘, der sich um unser verfehltes
       Entwicklungsmodell dreht und um den Gegenentwurf eines Modells nachhaltiger
       Entwicklung“, sagt sie. Zwei Kapitel übersetzte sie, Beppe Grillo schrieb
       das Vorwort für die italienische Ausgabe.
       
       „Hätten wir eine starke Grüne Partei in Italien gehabt“, meint die
       Lektorin, dann wäre M5S womöglich nie entstanden. Einmal alle zwei Wochen
       trafen sich damals, vor fünf Jahren, die Grillo-Aktivisten in Rom. Sie
       richteten einen Arbeitskreis zur Konfliktbewältigung ein. „Wir kamen ja aus
       den verschiedensten Ecken und auch aus völlig unterschiedlichen
       Generationen, da krachte es manchmal gewaltig.“
       
       Guru Grillo hielt sich vor Ort immer raus. „Er hat uns nie irgendwas
       vorgegeben“, meint Campo, „im Gegenteil, er hat die lokalen Initiativen
       immer als Anregungen betrachtet.“ Der Punkt „Keiner darf zurückgelassen
       werden“ im nationalen Wahlprogramm etwa stamme aus ihrem regionalen
       Wahlprogramm.
       
       ## Die Kunst, selbst gegebene Regeln zu umgehen
       
       Aus allen Ecken kommen heute die Grillini, darunter viele enttäuschte Linke
       – Personen, die mit der allzu gemäßigten PD fertig sind wie „mit der auf
       ihre überkommene Identität fixierten radikalen Linken, die immer noch mit
       den alten Kategorien, mit der Zentralität der Arbeiterklasse und so weiter
       hantiert“.
       
       Jetzt macht sich Giusy Campo an die Arbeit, mit einer „Projektgruppe
       Europa“ der 5-Sterne-Bewegung. „Da werden wir erst mal studieren und dann
       Vorschläge formulieren, schließlich wird heute alles in Europa
       entschieden“, sagt sie gelassen.
       
       Genauso gelassen saß sie jüngst in einem deutsch-italienischen Seminar der
       Europäischen Bewegung, ihr gegenüber der frühere Ministerpräsident Giuliano
       Amato, dazu diverse Parlamentarier beider Länder. Nicht den Wahlkampfslogan
       Grillos – „Alle ab nach Hause!“ – schleuderte sie ihnen entgegen, sie trug
       ruhige, durchargumentierte Überlegungen zu einem radikalen Kurswechsel in
       der EU vor.
       
       ## Seit zwei Jahren im Stadtrat
       
       Eine gelassene, so gar nicht fanatische Wutbürgerin: das ist wohl auch die
       passende Charakterisierung für Francesca Santarella. Die 42-Jährige hätte
       sich noch vor wenigen Jahren so wenig wie der Informatiker oder die
       Lektorin träumen lassen, dass sie einmal in die Politik gehen würde. Seit
       knapp zwei Jahren sitzt sie nun im Stadtrat von Ravenna.
       
       „Damals wollte die Stadtspitze ein altes, denkmalgeschütztes Fabrikgebäude
       im Hafen von Ravenna einfach abreißen lassen“, erzählt Santarella. Ihr ging
       der Hut hoch, aber „die Einzigen, die mir Gehör schenkten, waren die
       Grillo-Leute hier vor Ort“. Die – von der linken PD kontrollierte –
       Stadtverwaltung plante ein Einkaufszentrum im alten Hafen. Santarella
       machte sich für ein Alternativmodell stark, für kulturelle Nutzung, so wie
       auf der Zeche Zollverein in Essen oder im Innenhafen von Duisburg, die sie
       als Exempel anführt.
       
       Auch sie blickt stets nach Europa, um Positivbeispiele ausfindig zu machen,
       und sie ärgert sich zutiefst über die „italienische Politik“: „Hier bei uns
       beherrschen sie die Kunst, selbst gegebene Regeln zu umgehen, sie nach
       Bedarf anzupassen; das ist leider unsere Spezialität.“ Eine Spezialität,
       gegen die ihrer Meinung nach eine breite Bürgerbewegung aufstehen muss.
       
       Das wäre dann die „Revolution“, auf die der Informatiker, die Lektorin und
       die Stadträtin hoffen: „Bürger, die die Sache selbst in die Hand nehmen“,
       wie De Lorenzis den Traum zusammenfasst. Und Bürger, die mittlerweile
       nichts mehr für unmöglich halten. In zwei Monaten wird der Bürgermeister
       Roms neu gewählt. „Da wollen wir gewinnen“, sagt Campo ganz
       selbstverständlich. In Italien lacht sie niemand mehr aus. Nach den Wahlen
       ist M5S in den letzten Umfragen auf 30 Prozent geklettert.
       
       19 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
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