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       # taz.de -- Hamburger Rockband Herrenmagazin: „Punk ist gescheiterte Revolution“
       
       > Die deutsche Musikgruppe Herrenmagazin bringt ihr neues Album „Das
       > Ergebnis wäre Stille“ heraus. Ein Gespräch über Lyrik, Kunst und
       > Verzweiflung.
       
   IMG Bild: Voll meta: Herrenmagazin, bestehend aus Rasmus Engler, Paul Konopacka, Deniz Jaspersen, König Wilhelmsburg.
       
       taz: Herr Jaspersen, Herr Engler, Ihre Musiktexte klingen nach vertonten
       Gedichten. Lesen Sie eigentlich welche? 
       
       Rasmus Engler: Letzte Nacht habe ich darüber nachgedacht, mal wieder meinen
       Lieblingsdichter Jakob van Hoddis zu lesen. Zudem habe ich Erich Fried in
       der Hand gehabt und festgestellt, dass das unglaublicher Kitsch ist.
       Neulich bin ich beim Aufräumen auf die „Gesänge des Maldoror“ von
       Lautréamont [erschienen 1874, gilt als radikal-surrealistisches lyrisches
       Schlüsselwerk, Anm. d. Red.] gestoßen. Die hat mir vor fast 20 Jahren mal
       ein durchgedrehter Expunk geschickt. Gedichte zu lesen ist wie Singles zu
       Hause auflegen. Das macht man eher selten. Warum die Frage?
       
       Wegen Textzeilen wie „In den dunkelsten Stunden / Wirft der Schatten das
       Licht / Löscht das Feuer die Brände / Schweigt man sich aus über dich /
       Spendet Streit seinen Trost“. 
       
       Engler: Generell fällt heute ein korrekter Genitiv in einem Lied schon auf.
       Ich selbst bin auf der sprachlichen Ebene sehr streng mit mir.
       
       Deniz Jaspersen: Der Anspruch, den wir diesbezüglich haben, ist, besser zu
       sein als die anderen. Es gibt wenig gute deutsche Texter.
       
       Und was wären die Ausnahmen? 
       
       Jaspersen: Claus Luer von der Punkband Chefdenker. Das sind Texte von
       genialer Banalität: „Das Bier im Backstageraum ist leer / wo ist der
       Scheiß-Ver-an-stal-ter“ (lacht). 
       
       Engler: Sven Regener, der erzählt aber eher Geschichten.
       
       Muss man Geschichten erzählen? 
       
       Engler: Nein, aber schön finde ich es trotzdem. Jemand, der eine
       vorbildliche bildliche Sprache entwickelt hat, ist Franz Josef Degenhardt.
       Wolf Biermann hat in den 70ern sehr gute Texte geschrieben. Mittlerweile
       ist er so peinlich wie Günter Grass. Die beiden sehen sich heute ähnlich,
       dass kann kein Zufall sein.
       
       Jaspersen: Es ist wichtig, klar zu sagen, worum es geht, aber man muss sich
       thematisch Grenzen auflegen.
       
       Das klingt pessimistisch. 
       
       Jaspersen: „Ich glaube an das Böse im Menschen“ [aus dem Song „In den
       dunkelsten Stunden“, Anm. d. Red.], lautet eine unsere Zeilen. Jeder Mensch
       ist unter bestimmten Umständen zu Dingen fähig, die er selbst nicht für
       möglich hält. Die Regeln des Kapitalismus können zu Verbitterung führen. In
       dieser Erkenntnis steckt ein Misstrauen gegen die Welt.
       
       Ist Kunst die einzig adäquate Form der Kapitalismuskritik? 
       
       Engler: Nein. Das ist Steinewerfen genauso. Ich wundere mich sehr, wie
       wenig Leute zu Waffengewalt greifen. Nicht, dass ich dies teilen würde,
       dafür bin ich zu faul oder zu feige, aber es überrascht mich, dass der
       Mensch als Tier, das er ist, nicht früher zubeißt. Leute regen sich über
       religiöse Themen auf oder darüber, dass sie nichts mehr zu fressen haben,
       nachdem sie vorher genug hatten. Grundsätzlich scheinen alle damit
       einverstanden zu sein, wie die Welt vor die Hunde geht.
       
       Den wohlstandsgestählten Mittdreißigern, die gerade den Konservativismus
       für sich entdecken, fehlt offenbar die Revolution. 
       
       Engler: Vor allem hat diese Generation gesehen, wie die Revolution ihrer
       Eltern gescheitert ist.
       
       Jaspersen: Die Finanzkrise war ein solches Ereignis. In jedem betroffenen
       Land wurde konservativ gewählt. Denjenigen, die uns die neoliberalistische
       Suppe eingebrockt haben, wurde das Vertrauen ausgesprochen, es zu richten.
       Ein paradoxer Reflex.
       
       Mittlerweile wird alles als Revolution gefeiert, ohne nachhaltig zu sein. 
       
       Engler: Man sieht, dass das Kasperltheater, ob es nun den Occupy- oder den
       Piraten-Stempel trägt, nicht kontinuierlich wirkt. Alles ist zu inkohärent
       oder zu egozentrisch. Das wäre doch ein netter Titel für eine soziologische
       Schwarte: „Die Revolution frisst ihre Enkel“. Spiegel-Bestsellerliste.
       
       Mit dem Koautor Richard David Precht … 
       
       Engler: Erst kommt das Vorwort von Frank Schirrmacher.
       
       Wir leben in einem wohlsituierten Moloch an Möglichkeiten. Ist der
       Freiheitsmoment auch der der größten Verzweiflung, weil uns keiner
       beigebracht hat, Entscheidungen zu treffen? 
       
       Jaspersen: Wir pflegen fraglos textlich ein sozialkritisches Moment. Das
       ist ein Drache, den wir an der kurzen Leine halten. Wir wollen nicht mit
       einem erhobenen Zeigefinger langweilen. Deswegen ist Punk scheiße – auch
       eine gescheiterte Revolution. Die Verzweiflung ist spannender, weil sie
       produktiver ist als Zufriedenheit. Man stellt Fragen nach der Wirklichkeit
       und nach möglicher Veränderung.
       
       Wie, das Leben ist also nicht gerecht? 
       
       Jaspersen: Die Gesellschaft ist nicht mobil. Du kommst nicht nach oben. In
       den Köpfen der Leute dreht sich diese Vorstellung immer weiter. Insofern
       ist ein Künstlerdasein der mutigste Lebensentwurf. Kultur fährt immer neben
       der Sicherheitsspur.
       
       Engler: Sie gibt uns das Recht zu meckern.
       
       Jaspersen: Musik kann nichts verändern. Wenn ich etwas Sozialkritisches
       hören will, werde ich bestimmt keine Platte auflegen. Musik darf sich nicht
       so ernst nehmen. Dass muss man begreifen.
       
       Also geht es mehr um Zustandsbeschreibungen. 
       
       Engler: Im Idealfall erwächst aus ihnen die Wahrheit des Moments. Doch wir
       bieten weder Lösungen noch Wege an .
       
       Jaspersen: Letztlich ist alles Unterhaltung. 
       
       Sie machen also eigentlich Popmusik? 
       
       Jaspersen: Wir wollen unterhalten, aber wir inszenieren uns nicht.
       
       Engler: Ich finde es oft befremdlich, welche Texte von Teilen unseres
       Publikum mit geschlossenen Augen, gereckten Fäusten oder sich innig
       umarmend mitgesungen werden. Nimmt man etwa unser Stück „Atzelgift“, das
       inhaltlich nicht sonderlich aufbauend ist …
       
       Jaspersen (singt): Weil du die Wahrheit nicht erträgst …
       
       Engler: Freund und Freundin stehen dabei eng umschlungen. Es überrascht
       mich, dass das Leiden scheinbar gemeinsam so genossen wird.
       
       Jaspersen: Die Leute teilen das Gefühl.
       
       Das klingt jetzt nach PR-Strategie. 
       
       Jaspersen: Nein, man schreibt und hat den imaginären Konsumenten im
       Hinterkopf. Es geht schon oder trotz allem um ein Gefühl vom großen Ganzen.
       Es geht immer um das Verstehen. Deswegen fallen auch angebotene Lösungen
       auf so fruchtbaren Boden. Wir haben eher das Problem, dass wir oft sagen:
       Alles ist scheiße.
       
       Solange es noch zum Schreien reicht, kann es nicht ganz so schlimm sein. 
       
       Jaspersen: Der Unmut ist sicherlich eine luxuriöse Ausprägung der
       Wohlstandsgesellschaft. Ein konstruiertes Schlechtsein. In Gesellschaften,
       die weniger reich sind, gibt es unseren Retro-Wahn nicht. Während wir die
       Secondhand-Läden stürmen, finden dort die Menschen das Neue geil. Uns geht
       es so gut, dass wir uns erlauben können zu jammern.
       
       Ihr vorletztes Album hieß „Das wird alles einmal dir gehören“. Im Song
       Landminen auf der aktuellen Platte heißt es: „Doch so hoffnungsvoll wie ein
       böses Lied / könnten unsere Versprechen nie sein“. Zynismus? 
       
       Engler: Das ist ein sehr plumper Hinweis darauf, dass das ganze affirmative
       Gedöns, diese „Wir müssen nur wollen“-Plattitüde nicht anderes ist als
       saturierter neoliberaler Scheißdreck.
       
       Wut ist Ihnen als Thema wichtig. 
       
       Jaspersen: Wir sind getragen von einer inversiven Wut. Das Lied ist immer
       ein Ventil. Aktionismus ist mir fremd. Ich bin kein Mensch, der an der Uni
       Hochschulpolitik machen würde.
       
       Warum nicht? Warum geht man nicht auf die Straße? 
       
       Engler: Wenn man sich mit der Geschichte der Protestbewegung befasst, sieht
       man, dass alles zum Scheitern verurteilt ist. Das Scheitern von Wut ist
       das, was diese Generation so leer macht. Symptomatisch regt man sich eher
       darüber auf, dass der Apple-Shop überfüllt ist oder Fahrradfahrer auf der
       falschen Seite fahren. Wenn die Menschheit angemessen wütend wäre, würde es
       sie wahrscheinlich nicht mehr geben, weil sich alle längst umgebracht
       hätten. Resignation sichert das Überleben. Dies ist aber auch kein Plädoyer
       dafür, alles hinzunehmen.
       
       15 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Scheper
       
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