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       # taz.de -- East Side Gallery I: Geiselhaft aus Notwehr
       
       > Es ist legitim, die Diskussion über die East Side Gallery zu nutzen, um
       > auf den Konflikt am Spreeufer hinzuweisen. Eine Antwort zweier Piraten
       > auf einen Beitrag der taz.
       
   IMG Bild: Streitobjekt der Stunde: die East Side Gallery.
       
       Wer Tausende Menschen zu einer Demonstration mobilisieren will, muss eine
       zündende Botschaft haben. Das schrieb Sebastian Heiser kürzlich in einem
       viel beachteten taz-Artikel mit dem Titel „[1][Mauer in Geiselhaft]“. Darin
       warf er Aktivisten aus Friedrichshain-Kreuzberg vor, den Durchbruch der
       East Side Gallery unzulässig mit der Mediaspree-Bebauung zu vermischen. Er
       schrieb: Der Mauerdurchbruch sei für die Anbindung einer Fußgängerbrücke
       nötig geworden, aber nicht für die Bebauung des Ufers selbst. Zudem sei es
       weder der erste Durchbruch gewesen noch der breiteste. Insofern sei der
       Protest an der Spree die Geiselnahme eines Mauerstücks zur Durchsetzung von
       Interessen, die damit nur am Rande verknüpft sind.
       
       Die Berliner SPD war sichtlich erfreut, dass ihr die taz den Weg bereitete
       für ihre eigene Botschaft an die Bevölkerung. Das Thema Bebauung kommt
       darin nur am Rande vor. Für die East Side Gallery jedoch bietet sich Klaus
       Wowereit als Vermittler an. In seinen Aussagen schwingt die Hoffnung mit,
       dass zwischen den gegenseitigen Schuldzuweisungen von Senat und Bezirk in
       einem jahrelangen Verfahren keiner mehr durchblickt, aber am Ende eine
       Alternative für den Mauerdurchbruch gefunden wird. Für die Bebauung
       interessiert sich dann niemand mehr, und Wowereit kann sich als Retter
       inszenieren. Ganz unberechtigt sind seine Hoffnungen nicht. Denn wer kennt
       sich mit dem komplizierten Baurecht aus und überprüft jede einzelne
       Aussage.
       
       Wer sich diese Mühe macht, stellt jedoch fest, dass die Vorwürfe gegen die
       aktuellen Proteste so nicht zu rechtfertigen sind. Die Lage ist
       komplizierter. Um sie zu verstehen, muss man zuerst auf drei Ereignisse
       verweisen: erstens auf das Wettbewerbsverfahren von Bausenator Volker
       Hassemer (CDU) im Jahr 1992, das den Startschuss für die Bebauung des Ufers
       gab. 2000 wies die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung unter Peter
       Strieder (SPD) aus „dringendem Gesamtinteresse Berlins“ den Bezirk an,
       Baurecht zu erteilen. Alles, was jetzt im Bezirk folgte, war Handeln in
       Zwängen.
       
       Zweitens kommt man auf den jahrelangen Protest, dessen vorläufiger
       Höhepunkt der Bürgerentscheid 2008 darstellte. In diesem ersten
       erfolgreichen Entscheid im Bezirk sprachen sich 87 Prozent der Beteiligten
       gegen die Bebauung des Spreeufers aus.
       
       Und drittens muss man auf die folgenden viereinhalb Jahren verweisen, in
       denen der Senat nichts unternahm, um die Bebauung zu verhindern und damit
       den Bürgerwillen umzusetzen. Alle formalen Möglichkeiten des Widerstands
       waren damit ausgeschöpft. Jetzt blieb nur noch die Straße. Da erinnert die
       Spreeparade jedes Jahr an die Fehlentwicklung im Bezirk und zieht damit
       mehr und mehr Menschen an.
       
       In dieser Situation ergibt sich nun durch die Arbeiten an der East Side
       Gallery die Möglichkeit, die oben skizzierte Fehlentwicklung erneut zu
       thematisieren. Was jahrelange Bemühungen von Aktivisten und Bürgern nicht
       vermochten, besorgt nun die weltweite Aufmerksamkeit wegen der Versetzung
       von ein paar Metern Mauer. Der Senat sieht sich jetzt zur Reaktion
       gezwungen.
       
       Insofern war es legitim und notwendig, die Mauerarbeiten zu nutzen, um auf
       den Konflikt am Spreeufer hinzuweisen. Wer hier von einer Geiselhaft
       spricht, unterschlägt, dass der Handlungsspielraum im Bezirk enorm
       eingeschränkt ist – durch die Weigerung des Senats, sich der Wünsche der
       Bevölkerung anzunehmen. Es handelt sich hier also, wenn überhaupt, um eine
       Geiselhaft aus Notwehr.
       
       Nun bleibt zu hoffen, dass sich Wowereit mit seiner Vorgehensweise
       verrechnet hat. Die Aktivisten werden den Druck aufrechterhalten.
       Bürgermeister Franz Schulz darf nicht nachgeben und muss sich einer
       alternativen Erschließung der Brücke über Bezirksgrundstücke verschließen.
       Denn wenn der Zankapfel Mauer als Trumpf der Protestierenden aus dem Spiel
       genommen wird, kann der Senat sich wieder aus der Verantwortung für die
       ursprünglich von ihm verursachte Situation stehlen und den Bürgerwillen
       weiter ignorieren.
       
       11 Mar 2013
       
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