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       # taz.de -- Stundenlohn für Leiharbeit: Gerechtigkeit auf halber Strecke
       
       > Christliche Gewerkschaften sollten Zeitarbeitern Lohn nachzahlen.
       > Geschehen ist das bisher jedoch kaum. Nun entscheiden die Richter neu.
       
   IMG Bild: Mit Papphänden gegen den Missbrauch von Leiharbeit: Protest vor dem Kanzleramt in Berlin, 2011.
       
       BERLIN taz | Es gibt doch Gerechtigkeit, dachte Britta Reichenbach. Die
       25-Jährige, die ihren Namen in der Zeitung nicht nennen will, hatte als
       Leiharbeiterin für das Druckunternehmen Prinovis in Ahrensburg bei Hamburg
       gearbeitet.
       
       „Ich bin schnell zur Teamleiterin aufgestiegen, habe Verantwortung für die
       Druckschichten und Maschinen übernommen“, sagt Reichenbach. Entlohnt wurde
       sie dafür mit 7,80 Euro Brutto in der Stunde. Am Monatsende hatte sie für
       eine 40-Stunden-Woche meist 1.000 Euro in der Tasche.
       
       Dann standen ihr rund 10.000 Euro Lohnnachzahlungen in Aussicht. Denn die
       Gewerkschaft Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit
       und Personalserviceagenturen (CGZP), in der Reichenbach nie Mitglied war,
       die aber mit Prinovis Tarifverträge abgeschlossen hatte, wurde vom
       Bundesarbeitsgericht (BAG) 2010 für tarifunfähig erklärt.
       
       ## Weniger als fünf Euro die Stunde
       
       Die CGZP – 2002 gegründet – hatte 2003 ihren ersten Tarifvertrag
       unterschrieben und eine damals neue Regelung zur Deregulierung der
       Leiharbeit genutzt. Seither gilt: Existiert für Leiharbeiter ein spezieller
       Tarifvertrag, müssen sie nicht wie festangestellte Kollegen entlohnt
       werden. Die CGZP schloss daraufhin unter anderem etwa 200 Haustarifverträge
       mit Stundenlöhnen von teilweise unter fünf Euro ab.
       
       Die BAG-Richter sprachen der Organisation ab, eine Gewerkschaft zu sein.
       Damit waren alle Tarifverträge nichtig. Und Reichenbach hatte, wie
       geschätzt 300.000 weitere Leiharbeiter, Anspruch auf den gleichen Lohn wie
       die Stammkräfte im Betrieb.
       
       Doch das Urteil übersetzte sich im Alltag nicht so einfach in
       Gerechtigkeit. „Nur etwa 1.500 Leiharbeiter haben sich überhaupt getraut,
       individuell auf Lohnnachzahlungen zu klagen“, sagt Thomas Klebe, Justiziar
       bei der Gewerkschaft IG Metall.
       
       Und etliche Beschäftigte, die klagten, mussten erleben, dass sie abgewiesen
       wurden. So wie Reichenbach vor dem Arbeitsgericht Lübeck. Sie ging in
       Berufung. „Ich habe mich schließlich in einem Vergleich mit 2.000 Euro
       Brutto zufrieden gegeben.“
       
       Das Lübecker Gericht argumentierte, für die Verträge mit der
       Leiharbeitsfirma Tabel, die Reichenbach an Prinovis vermittelte, seien die
       Ausschlussfrist abgelaufen. Ausschlussfristen in individuellen
       Arbeitsverträgen legen fest, dass ein Arbeitnehmer, hat er etwas am
       Arbeitsverhältnis zu beanstanden, dies spätestens drei Monate später vor
       Gericht geltend machen muss. Doch als das BAG-Urteil fiel, waren etliche
       Arbeitsverhältnisse, auch das von Reichenbach, längst beendet.
       
       ## Unsicheres Arbeitsverhältnis selbst verschuldet
       
       Reichenbachs Anwalt Holger Thieß hält deswegen die sonst sinnvollen
       Ausschlussfristen, die dem Arbeitgeber Sicherheit geben sollen, im
       speziellen Fall für nicht anwendbar. „Denn die Arbeitgeber selbst haben die
       Unsicherheit im Arbeitsverhältnis herbeigeführt, indem sie auf eine
       Scheingewerkschaft setzten.“
       
       Am Mittwoch entscheidet sich, ob die höchsten Arbeitsrichter in Erfurt das
       mit den Ausschlussfristen ähnlich sehen. Vor dem BAG sind erneut fünf
       Klagen von Leiharbeitern aufgelaufen.
       
       Doch egal, wie die Erfurter Richter entscheiden, für Britta Reichenbach
       wird im konkreten Fall nicht mehr Lohn herausspringen. Insgesamt hätten die
       rund 300.000 Leiharbeiter Anspruch auf zusätzliche Entgelte in Höhe von
       rund einer Milliarde Euro gehabt, schätzt Thieß. Doch gestritten werde
       derzeit nur um ein Volumen von rund fünf Millionen Euro, sagt Klebe.
       
       13 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva Völpel
       
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