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       # taz.de -- Wie der Punk nach Hannover kam (V): Bloß weg nach Berlin!
       
       > Ist die Verwendung von Hakenkreuzen Punk oder bloß dämlich? Unser Autor
       > hat eine unangenehme Begegnung mit Schlägertypen, die er von früher
       > kennt.
       
   IMG Bild: Berlin 1981: Rosa (der Autor) auf Parolenpatrouille in der Adalbertstraße.
       
       Was bisher geschah: Die Szene differenziert sich stylemäßig aus. Unser Held
       bevorzugt ein besonders hartes, kaputtes Outfit, den Begriff „prätentiöse
       Verwahrlosung“ kennt er noch nicht. 
       
       Es ist jedoch nicht immer Fun and Games, unübersehbar und in
       provokatorischer Absicht den Außenseiter zu geben, und Toleranz war keine
       besonders ausgeprägte Eigenschaft eines letztlich gnadenlosen
       kleinbürgerlichen Milieus, als das ich das ganze Hannover eigentlich noch
       immer sehe.
       
       An einem schönen Samstagabend – ich war soeben mit dem Zug von einer
       Gartenparty im Umland zurückgekommen, hatte mich am Hauptbahnhof „unterm
       Schwanz“(14) mit Alice Dee getroffen, dem Sänger meiner Band Rosa, wir
       schlenderten über die Georgstraße hin zum Steintorimbiss, um uns für die
       anstehende Punknacht zu stärken – kam es zur ultimativen Konfrontation mit
       diesem Milieu, zu dem ich nicht mehr gehörte.
       
       Drei bereits gut angesoffene Buffer(15), wie ich sie aus meiner Zeit an der
       Straßenecke kannte, folgten uns. Nachdem sie sich einige Minuten
       warmgepöbelt und uns Bierflaschen nachgeworfen hatten, ging es auch schon
       los – Footchase. Ich schaffte es noch bis zur Mitte der Nordmannpassage, wo
       ich nach kurzer Gegenwehr umstandslos und ultrabrutal eingestiefelt wurde.
       Das Letzte, an das ich mich erinnere, bevor ich mit schweren Schädel- und
       inneren Verletzungen wieder zu mir kam, waren messingbeschlagene
       Stiefeletten, die mir ins Gesicht traten.
       
       Als ich nach Monaten aus dem Krankenhaus(16) entlassen wurde, hatte sich
       einiges getan, interessanterweise auf dem Gebiet der Inneneinrichtung.
       Bärbel, der Schlagzeuger von Blitzkrieg, hatte es irgendwie geschafft, sich
       in eine Wohnung einzumieten. Als Raumschmuck nähte er – mit der Hand – eine
       Hakenkreuzfahne, so groß wie die größte Wand in der Wohnung.
       
       Den Stoff hatte er bei Karstadt geklaut. Das Hakenkreuz hatte keinen
       einzigen rechten Winkel, nicht mal der weiße Kreis war regelmäßig rund. Auf
       diese monströse Fahne heftete er Fahndungsplakate mit den RAF-Aktivisten
       drauf, die er aus Polizeistationen holte. Wenn sie ihm keines geben
       wollten, stahl er das, was im Flur hing. Das Ziel, das Zimmer bis unter die
       Decke mit leeren Bierdosen zu füllen, wurde nicht erreicht. Nach einem
       Wochenende, das er alleine und auf LSD dort verbrachte, wurde die Wohnung
       durch den Vermieter zügig geräumt.
       
       Das Hakenkreuz war ein Thema in der Szene. Was für die englischen Punks
       zutreffen mochte, dass sie nämlich letztlich nur eine sehr verschwommene
       Ahnung hatten, um was für ein Zeichen es sich handelte(17), traf sicher
       nicht auf die deutschen Punks zu, besonders nicht auf die politisch
       bewussteren. Wer damit hantierte, wusste im Allgemeinen, was er tat, wenn
       auch nicht immer warum oder wozu.
       
       Bei einer Silvesterparty im Bremer Schlachthof, zu der ein Haufen Punks aus
       ganz Norddeutschland und auch einige Berliner gefahren waren, trat eine
       Band aus Hamburg auf, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. Es war
       eine allgemeine Idioten-Crew. Der Sänger machte auf Sid Vicious, samt
       schwarzer Lederjacke, Hakenkreuz-T-Shirt und Halskette mit Vorhängeschloss.
       Den Berlinern in ihrem geschärften links-anarchistischen Bewusstsein war
       das aus politischen Gründen unerträglich, unserem hannoverschen Kontingent
       aus modischen Gründen. Konnte es ein lächerlicheres Posertum geben, als
       sich eins zu eins wie Sid Vicious anzuziehen?
       
       Der absurdeste Freak des Abends war ein afrodeutscher Hamburger, der – wie
       sich später herausstellte – ganz gerne ein Nazi gewesen wäre und der – weil
       er bei Kühnen selbstverständlich nicht mitmachen durfte – eine eigene
       Schlägertruppe namens Savage Army (SA) gegründet hatte. Es kam zum Streit
       und im Anschluss an das Konzert der Band, das sich diese, unterstützt von
       ihren zahlreich angereisten und extrem aggressiven Fans, vom Veranstalter
       erpresst hatte, zu etlichen Schlägereien. „Alder, das is’ Punk, da
       verstehste nix von!“ wurde ein geflügeltes Wort für uns.
       
       In dieser Nacht machte ich eine Beobachtung, die mein späteres Leben
       nachhaltiger beeinflussen sollte als alles, was ich bis dahin gesehen
       hatte. Ich sah einem Typen dabei zu, wie er sich – betrunken hin- und
       herschwankend – mühsam mit einer Hand an einer Laterne festhielt und auf
       seine Schuhe kotzte. Blitzartig erkannte ich: Es kam mehr auf die Haltung
       an und weniger auf die Klamotten.
       
       Zwei Wochen später war ich in West-Berli.
       
       (14) "Unterm Schwanz" des Pferdes des Ernst-August-Denkmals vor dem
       Hauptbahnhof. Der klassische Verabredungspunkt für Generationen von
       Hannoveranern ...
       
       (15) (deutsch ausgesprochen) stumpfsinnige junge Schlägertypen in
       beigefarbenen Cordsakkos (mit zu kurzen Ärmeln) und weiten
       1970er-Jahre-Jeans.
       
       (16) Das Krankenhaus lag dann direkt neben dem Punk- und
       Fetischklamottenladen S.W.3. Zudem stellte sich heraus, dass der Arzt, der
       mir den mehrfach gebrochenen Kiefer zusammendrahtete, der Großvater des
       Sängers und Gitarristen der hannoverschen Ur-Punkband Kondensators (und
       später Abstürzende Brieftauben) Konrad "Votze" Kittner (2006) war.
       
       (17) Johnny Rotten schreibt in seiner Autobiografie: "The Punks didnt even
       know what the Swastika meant. [...] Punks used it innocently just to show
       off. [...] To them it meant that it was taboo and anti-social. They never
       questioned what it stood for because they were too naive. Do you think Sid
       knew what the Swastika stood for? Sids idea was that it was naughty and
       that was as deep as he went for it." (Lydon, John: "Rotten. No Irish, No
       Blacks, No dogs. The Authorized Autobiography of Johnny Rotten and the Sex
       Pistols", New York 1994).
       
       8 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heinrich Dubel
       
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