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       # taz.de -- Buchvorstellung „Schmerzliche Heimat“: Wenn Deutschland zur Hölle wird
       
       > Semiya Simsek, Tochter des ersten NSU-Opfers, schildert in ihrem Buch,
       > wie Polizei und Geheimdienst ihr Vertrauen in den deutschen Staat
       > zerstörten.
       
   IMG Bild: Semiya Simsek wird als Nebenklägerin im NSU-Prozess auftreten
       
       Semiya Simsek will kein passives Opfer sein. Das hatte sie schon vor einem
       Jahr deutlich gemacht, als sie bei der Gedenkfeier für die zehn vom NSU
       ermordeten Menschen das Wort ergriff und den Staatsgästen vor ihr erklärte,
       was jahrelange falsche Verdächtigungen bedeuten: Noch nicht mal ruhigen
       Gewissens trauern zu können.
       
       Danach verließ Simsek erst einmal Deutschland und zog in die Türkei, wo sie
       im Sommer 2012 heiratete. Nun, wenige Wochen vor dem Prozess gegen die
       mutmaßlich für den Mord an ihrem Vater Mitverantwortlichen ist sie
       zurückgekommen. In ihre Heimat, in der sie 1986 geboren ist, zur Schule
       ging, studierte und als Sozialpädagogin arbeitete.
       
       Am Freitag stellte Semiya Simsek im Haus der Bundespressekonferenz in
       Berlin ihr Buch vor („Schmerzliche Heimat“), das sie zusammen mit einem
       Journalisten geschrieben hat. Es ist – wie könnte es anders sein – ein sehr
       persönliches Buch. Eine Erinnerung an ihren Vater Enver, der 1985 nach
       Deutschland kam und sich mit viel Fleiß und Schweiß einen Blumenhandel
       aufgebaut hatte; er arbeitete an einem seiner Straßenstände, als die Mörder
       ihn am 9. September 2000 in Nürnberg niederschossen.
       
       ## Opfer werden zu Tätern
       
       Gleichzeitig ist das Buch eine Anklage gegen die deutschen Behörden, die
       allerdings ohne anklägerischen Duktus auskommt. Es reicht, zu schildern,
       wie die Polizei bei ihren Ermittlungen vorging; wie sie den ermordeten
       Vater zum Verdächtigen machte, der angeblich etwas mit dem Schmuggel von
       Heroinstreckmittel zu tun habe – dabei kaufte er nur Blumen in Holland; wie
       die Polizei die Frau von Enver Simsek ins Visier nahm und auf mickriger
       Rechtsgrundlage mit Wanzen ihre Gespräche in einem Blumentransporter
       abhörte.
       
       Sie sei erschrocken, als sie für ihr Buch die Ermittlungsakten studierte,
       sagte Semiya Simsek am Freitag. Ihre Familie sei „verdächtigt, bedrängt und
       ausspioniert worden“ – und zwar in einem noch schlimmeren Ausmaß, als sie
       bisher gedacht habe.
       
       Elf Jahre dauerte es, bis herauskam, dass ihr Vater Enver von Neonazis
       ermordet wurde. Sie sei einerseits erleichtert gewesen, endlich die
       Wahrheit zu erfahren, schreibt Semiya Simsek in ihrem Buch. Andererseits
       aber zutief verstört und verunsichert, dass in Deutschland eine
       Untergrundterrorgruppe 13 Jahre unentdeckt blieb.
       
       Inzwischen rauben ihr die immer neuen Enthüllungen um geschredderte Akten,
       kriminelle V-Leute und Polizisten beim Ku-Klux-Klan das letzte Vertrauen in
       den Behördenapparat. Angela Merkel habe bei der Gedenkfeier vor einem Jahr
       versprochen, alles für die Aufklärung zu tun, sagte Simsek in Berlin.
       Darauf habe sie sich verlassen – doch inzwischen höre man von der Kanzlerin
       nichts mehr.
       
       Aber trotz alldem will Semiya Simsek Deutschland nicht auf Dauer den Rücken
       kehren. Denn genau das hätten die Neonazis gewollt, schreibt sie, „uns
       türkische Deutsche aus unserer Heimat vertreiben“. Sie wird als
       Nebenklägerin bei dem am 17. April beginnenden NSU-Prozess in München
       auftreten, den ihre Anwälte einen „der bedeutsamsten Prozesse der deutschen
       Nachkriegsgeschichte“ nennen.
       
       8 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf Schmidt
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