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       # taz.de -- AKW-Ruine in Fukushima: In der Strahlenhölle
       
       > Zum zweiten Jahrestag der Atom-Katastrophe in Fukushima konnten
       > Journalisten das Gelände des Kraftwerks besuchen. Der taz-Korrespondent
       > war dabei.
       
   IMG Bild: Trotz Schutzmaßnahmen entgehen die Journalisten der Strahlung nicht. Für über 3.000 Arbeiter in Fukushima ist das Alltag.
       
       FUKUSHIMA taz | Radioaktive Strahlung lässt sich nicht sehen, schmecken
       oder berühren. Aber das Wissen um ihre gefahrbringende Existenz reicht aus,
       um bei Besuchern des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi ein mulmiges Gefühl
       zu erzeugen. Schon an der Messstelle vor dem streng bewachten Eingangstor
       der havarierten Atomanlage Fukushima Daiichi zeigt das Dosimeter der
       Journalisten eine Belastung von 8 Mikro-Sievert pro Stunde an, 80 Mal mehr
       als die natürliche Hintergrundstrahlung.
       
       Unterwegs in der weitläufigen Industrieanlage sind die Werte teilweise
       drastisch höher, etwa am weit geöffneten Zugang zum Turbinengebäude von
       Reaktor 3. Der Tsunami hat das metallene Rolltor brutal nach oben gefaltet.
       Hier springt der Strahlenanzeiger auf 1.700 Mikro-Sievert pro Stunde. Die
       erlaubte Jahresdosis von 1 Milli-Sievert für einen normal Sterblichen wäre
       hier nach 35 Minuten erreicht. Ein AKW-Arbeiter hätte sein Jahresmaximum
       von 20 Milli-Sievert nach zwölf Stunden abbekommen.
       
       Unter dem strahlend blauen Winterhimmel wirbelt der kalte Pazifikwind
       Staubwolken zwischen den beschädigten Kraftwerksbauten auf. Im Staub lauern
       die radioaktiven Isotope, deren Zerfallsstrahlung menschliches Gewebe
       schädigt.
       
       Die Besucher müssen sich daher der gleichen Prozedur unterziehen wie jeder
       AKW-Arbeiter und in weiße Ganzkörperanzüge aus einem dicht gewebten
       Polyethylen-Vliesstoff steigen. Über ein Paar Handschuhe aus Baumwolle
       streifen sie zwei Paar Plastikhandschuhe und verkleben sie mit dem Anzug.
       Die Füße werden in zwei Paar Wollsocken gesteckt, über die Schuhe kommt
       eine durchsichtige Plastikhülle. Man setzt eine Stoffkappe auf und zurrt
       die Atemmaske mit Gummibändern fest.
       
       ## Wie ein Röntgenbild der Lunge
       
       Die harte Gammastrahlung geht zwar mühelos durch sämtliche Schichten durch.
       Aber die Schutzmaßnahmen verhindern, dass strahlende Staubteilchen sich auf
       der Haut festsetzen oder über die Atemwege dauerhaft in den Körper
       gelangen. Vor und nach der Tour über das AKW-Gelände werden die Besucher
       deshalb für jeweils eine Minute in einem Ganzkörpermessgerät auf innere
       Verstrahlung untersucht.
       
       Während der fünf Stunden in dem Atomkomplex zeichnen die Dosimeter der
       Besucher eine akkumulierte Strahlenmenge von 60 bis 70 Mikro-Sievert auf.
       Das ist etwa so viel wie bei einem Röntgenbild der Lunge. Der
       Fukushima-Betreiber Tepco sieht darin einen Erfolg. Die Strahlung auf dem
       Gelände sei „signifikant“ gesunken, verkündet AKW-Chef Takeshi Takahashi
       mit Stolz in seinen müden Augen.
       
       Das liegt vor allem daran, dass ein Großteil der kontaminierten Trümmer
       weggeräumt wurde. Die verringerte Strahlung habe Aufräum- und
       Reparaturarbeiten beschleunigt, erzählen Tepco-Mitarbeiter. Im Vergleich
       zum Vorjahr seien die Aktivitäten auf dem Gelände viel organisierter.
       
       Auf der Meerseite wurden mit Steinen gefüllte Drahtsäcke zu einem
       Tsunami-Schutzdeich aufeinander getürmt. In einer trockengelegten Zone
       werden demnächst dickwandige Stahlrohre bis zu 19 Meter in den Boden
       getrieben, damit kein Strahlenwasser mehr ins Meer fließen kann. Hinter
       jedem der drei havarierten Reaktoren steht ein Lastwagen mit mehreren
       Pumpen, die das Kühlwasser in den Reaktorbehältern zirkulieren lassen. Die
       dicken Wasserleitungen wirken ordentlich verlegt.
       
       Über 3.000 Menschen arbeiten jeden Tag in Fukushima Daiichi. Auf den ersten
       Blick scheinen sie trotz ihrer lästigen Schutzausrüstung eine große
       Bewegungsfreiheit zu haben. Auf dem Dach von Reaktor 4 entlädt ein Arbeiter
       gerade einen Lastenaufzug, der an der Fassade neu montiert wurde. Der
       abgeplatzte Putz und die Risse im Mauerwerk erinnern an die heftige
       Wasserstoffexplosion vor zwei Jahren.
       
       ## Gewaltige Metallkonstruktion
       
       AKW-Chef Takahashi beteuert, das schwer beschädigte Gebäude sei durch
       Stahlträger und Betonstützen inzwischen erdbebensicher. Ein Schwerlastkran
       bringt einen Stahlträger für die gewaltige Metallkonstruktion heran, die
       neben Reaktor 4 in die Höhe wächst. Darüber sollen ab November aus dem
       Abklingbecken im obersten Stockwerk 1.535 abgebrannte, jeweils 4 Meter
       lange Brennstäbe geborgen werden.
       
       Im benachbarten, unbeschädigt gebliebenen Lagergebäude, das erstmals
       Besucher sehen dürfen, werden bereits die Brennelemente aus dem Wasser
       geholt und in Betoncontainer verpackt. So schafft man Platz für die
       Brennstäbe aus Reaktor 4.
       
       Mangels Zwischen- und Endlagern verbleiben in Japan die abgebrannten
       Brennstäbe über den Reaktoren und auf dem AKW-Gelände. In Fukushima Daiichi
       verursacht diese Praxis ein Platzproblem, weil die Abklingbecken über allen
       vier Reaktoren bis 2022 ausgeräumt werden sollen. Insgesamt 11.417 neue und
       benutzte Brennstäbe müssen geborgen und eingelagert werden.
       
       Doch die Fortschritte an Reaktor 4 können nicht darüber hinwegtäuschen,
       dass die Ingenieure auch zwei Jahre nach der Katastrophe so gut wie nichts
       über den Zustand der zerstörten Reaktoren wissen. Die Sondierungen mit
       Endoskopen haben nur wenige Erkenntnisse darüber gebracht, wie viel
       Brennmaterial zum sogenannten Corium verschmolzen ist und wo es in den
       Behältern festgebacken ist.
       
       Die Strahlung in den Gebäuden ist so hoch, dass Menschen sie
       voraussichtlich noch bis Anfang des nächsten Jahrzehnts nicht gefahrlos
       betreten können. Ein 6 Millionen Dollar teurer Roboter auf Raupen, ging im
       dritten Stock von Reaktor 2 verloren.
       
       ## Frommer Wunsch: 30 bis 40 Jahre für die Stilllegung
       
       Das erdbebensichere Kontrollzentrum steht nur wenige hundert Meter von
       diesen Strahlenhöllen entfernt. Decken und Fenster sind mit Bleiplatten
       verkleidet, so dass die Strahlung hier nicht höher als im 250 Kilometer
       entfernten Tokio ist.
       
       Die ersten ausländischen Besucher seit der Katastrophe müssen einen
       Ganzkörper-Strahlenmesser passieren. Das Großraumbüro darf nicht
       kontaminiert werden. An der Wand hängt ein neungeteilter Bildschirm für
       Konferenzschaltungen zur Tepco-Zentrale und in andere Kraftwerke.
       
       Trotz aller Computertechnik hat man jedoch auch im Kontrollzentrum keine
       Ahnung, an welchen Stellen die Reaktorbehälter lecken, so dass immer neues
       verstrahltes Wasser in die Untergeschosse sickert. Frühestens 2022 kann man
       mit der Öffnung der Reaktoren beginnen. „Die Stilllegung dauert 30 bis 40
       Jahre“, wiederholt AKW-Chef Takahashi die offizielle Linie. Unabhängige
       Kenner halten das für einen frommen Wunsch.
       
       Das zeigen auch die aufwändigen Arbeiten auf dem Dach von Reaktor 3. Zwei
       Kräne arbeiten sich dort durch die Trümmer zum Abklingbecken mit den
       abgebrannten Brennstäben durch. Eine Explosion hatte am 15. März 2011 die
       Außenhülle weggesprengt und die Stahlkonstruktion in einen wirren Haufen
       metallener Spaghetti verwandelt.
       
       Auch diesen schockierenden Anblick will Tepco so bald wie möglich unter
       einer Schutzhülle verschwinden lassen, um wie schon bei Reaktor 1 die
       offenen Wunden der Katastrophe zu verdecken. Zwei Metallgerüste verdecken
       bereits die Sicht auf die zerfetzten Seiten des Gebäudes.
       
       Die Aufräumarbeiten gehen quälend langsam voran. Die zwei Kräne können
       wegen der extremen Radioaktivität nur ferngesteuert werden.
       
       Immerhin steht Tepco kurz davor, die ausufernden Mengen an kontaminiertem
       Wasser unter Kontrolle zu bekommen. Bislang wird die Flüssigkeit in über
       900 Tanks mit je 100.000 Litern Fassungsvermögen und gewaltigen
       Fassspeichern aufbewahrt. Sie stehen auf betoniertem Untergrund und sind
       von Sandsäcken umgeben. „Das soll verhindern, dass kontaminiertes Wasser
       ins Grundwasser leckt“, erklärt ein AKW-Sprecher.
       
       ## Das Wasser fließt in den Pazifik
       
       Als im vergangenen Jahr der Plan von Tepco bekannt wurde, dieses
       vorgefilterte Wasser in den Pazifik abzulassen, gab es in Japan einen
       Aufschrei der Empörung. Daher wurde inzwischen neben der Zufahrt zu den
       Reaktoren eine Reinigungsanlage von Toshiba errichtet.
       
       In drei Prozessreihen lassen sich dort 62 verschiedene Isotope aus dem
       Wasser filtern. Tepco wartet auf die Genehmigung der ersten Tests durch die
       neue Atomaufsicht. Niemand will jedoch bisher zugeben, dass das saubere
       Wasser am Ende doch ins Meer gepumpt wird.
       
       „Mit ganzem Herzen für Fukushima einsetzen!“ – Dieses Spruchband hängt an
       vielen Bauten auf dem AKW-Gelände. Ob die Stimmung unter den Arbeitern so
       kämpferisch ist, lässt sich schwer einschätzen. Strahlung, Erschöpfung und
       soziale Missachtung machen offenbar besonders den Tagelöhnern zu schaffen.
       
       Die Besucher des Kraftwerks dürfen aber nur mit Ingenieuren aus dem
       mittleren Management sprechen. Bei ihnen ist das Gefühl der nationalen
       Aufgabe zu spüren, diesen Schandfleck Japans zu tilgen.
       
       Jun Hirayama von Hitachi Plant Technologies hat sich freiwillig zum Einsatz
       gemeldet und in zwei Jahren eine Dosis von fast 100 Milli-Sievert erhalten.
       Seine Familie habe sich erst Sorgen gemacht, aber er sei ja nie innerlich
       verstrahlt worden, betont er.
       
       Bis Ende Dezember haben 146 Tepco-Angestellte und 21 Zeitarbeiter diese
       Maximaldosis für fünf Jahre überschritten. Im Laufe der Zeit sinkt
       anscheinend die Wachsamkeit für die eigene Gesundheit. „Man gewöhnt sich an
       die verstrahlte Umgebung“, gibt Hiroshige Kobayashi vom Baukonzern Kajima
       zu. So eine psychologische Veränderung erlebe man hier.
       
       11 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Fritz
       
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