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       # taz.de -- Kommentar NS-Lager: Die Faszination der großen Zahl
       
       > Die Geschichte des Holocaust muss nicht neu geschrieben werden. Die
       > Forscher des Washington Memorial haben nur Bekanntes neu verpackt.
       
       Wenn wir einigen britischen und deutschen Medien glauben, hat die
       historische Wissenschaft Unerhörtes herausgefunden. Der Independent fragt,
       ob „die Geschichte des Holocaust neu geschrieben werden muss“. Daily Mail
       meldet, dass nun erst das „wahre Ausmaß des Holocaust aufgedeckt“ sei. Zeit
       online konstatiert: „Der Holocaust hatte offenbar weit größere Ausmaße, als
       bisher angenommen.“
       
       Hatte er? Ist das Ausmaß des NS-Terrors aus unbegreiflichen Gründen
       jahrzehntelang zu niedrig veranschlagt worden? Keineswegs. Die Zahl von
       42.500 Lagern in der NS-Zeit, die US-Historiker herausgearbeitet haben,
       klingt spektakulär, aber das ist sie nicht.
       
       Sie sagt so gut wie nichts über den Holocaust und ist eine fragwürdige
       Zusammenfassung unterschiedlichster Lager unter eine Kategorie – Nazilager.
       
       Medien und Wissenschaft folgen unterschiedlichen, manchmal konträren
       Logiken. Wissenschaft muss exakt arbeiten und präzise Unterscheidungen
       treffen. Medien funktionieren manchmal nach der Devise „mehr, neu, größer“.
       
       In dieses Schema passt die Botschaft „42.500 Nazilager“. Wir haben es mit
       einem Kurzschluss zwischen wissenschaftlichem Vermarktungsinteresse und
       medialer Nachfrage nach schlagzeilenfähigem Material zu tun.
       
       Das erweist sich beim Thema NS-Zeit als wenig brauchbare Methode. Denn die
       Forscher des Washington Memorial haben weitgehend Bekanntes neu verpackt
       und „Sensation“ draufgeschrieben. Es ist aber nicht sinnvoll,
       Vernichtungslager mit Kriegs- und Zwangsarbeiterlagern der schrecklichen
       und erträglicheren Art in einer Topf zu werfen.
       
       Dieses Verfahren dient nicht der historischen Aufklärung. Es folgt den
       Direktiven der Erregungsdramaturgie.
       
       Solche Spekulationen mit der Faszination der großen Zahl sind ein
       nachlässiger Umgang mit der Ressource Glaubwürdigkeit, über die auch die
       Geschichtswissenschaft nicht in unendlichem Maße verfügt.
       
       5 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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