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       # taz.de -- Neues Album „Exai“ von Autechre: Hoffnung in jeder Sekunde
       
       > Das nordenglische Elektronik-Duo Autechre vertieft sich auf seinem neuen
       > Album „Exai“ in künstliche Paradiese. Behaglich klingen sie nicht.
       
   IMG Bild: Erweiterter Techno-Begriff: Rob Brown und Sean Booth von Autechre.
       
       Früher oder später landet man doch bei ihrem Namen. Etwa wenn es um die
       Aussprache geht: „Autechre“ ruft schon beim Lesen Widerstände hervor und
       provoziert gern Fragen wie: „Heißt es ’teckre‘ oder ’tecker?“ Damit hat
       sich das britische Duo die Sperrigkeit systematisch eingeschrieben.
       
       Und Sperrigkeit macht bei der Sprache längst keinen Halt. Die beiden
       Sheffielder Musiker Rob Brown und Sean Booth – denen laut BBC jede denkbare
       Aussprache ihres Namens recht ist – stehen seit dem Erscheinen ihres
       Debütalbums „Incunabulae“ vor 20 Jahren für einen erweiterten Begriff von
       Techno, der den Beats das Stolpern beibrachte und sich nur gelegentlich mit
       Fragen der Bewegungsförderlichkeit auseinandersetzte.
       
       IDM, „Intelligent Dance Music“, wurde diese Stilrichtung in den Neunzigern
       genannt: etwas irreführend, da Tanzen, wie intelligent auch immer, meistens
       nicht das große Thema war.
       
       ## Hoher Wiedererkennungsgrad
       
       Daran hat sich auf Autechres gerade erschienenem elften Album „Exai“ wenig
       geändert. So wie die künstlerische Entwicklung bei Brown und Booth
       insgesamt in erster Linie in der Verfeinerung und Ausarbeitung einer
       zentralen Idee besteht: Es gibt wenige Vertreter elektronischer Musik, die
       eine musikalische Identität mit ähnlich hohem Wiedererkennungsgrad
       geschaffen haben.
       
       Das metallische Rumpeln ihrer Rhythmuselemente, das mal Spuren von
       HipHop-Schlendergang, mal Anklänge an die hektische Überdrehtheit von Drum
       ’n’ Bass erkennen lässt, wirkt bei Autechre stets wie durch den akustischen
       Fleischwolf ihrer Apparaturen gedreht, um seine typische Signatur verpasst
       zu bekommen.
       
       Während es in den Neunzigern noch relativ einfach war, die verschiedenen
       Einflüsse von Autechre herauszuhören, setzte ab 2001 eine stark hermetische
       Tendenz ein. Jedes Signal, jede Frequenz stand plötzlich zur Debatte, wurde
       zum Konstruktionselement immer abstrakterer Gebilde, die ständig in
       Bewegung schienen und trotzdem keine klare Richtung erkennen ließen. Das
       bracht ihnen den Vorwurf des „Essentialismus“ ein, eines selbstbezüglichen
       Kreisens um den eigenen Entwurf. Was insofern stimmt, als Moden für
       Autechre eigentlich nie eine nennenswerte Rolle gespielt haben.
       
       Mit „Exai“, dessen Titel als „X“ und „I“ – englisch buchstabiert – gelesen
       werden kann, was der römischen Schreibweise der Zahl Elf entspricht,
       entfernen sich Autechre etwas vom sprödem Gestus ihrer mittleren Phase und
       legen zugleich ihr erstes Album im Doppel-CD-Format vor (da die
       Vinyl-Ausgabe auf vier Schallplatten verteilt ist, passt der Ausdruck
       „Doppelalbum“ nur bedingt).
       
       ## Majestätisch hallende Glücksmomente
       
       Die Spielzeit von gut zwei Stunden nutzen Brown und Booth für ausgedehnte
       Epen, die öfter mal die Zehn-Minuten-Marke hinter sich lassen. Darunter
       finden sich so majestätisch hallende Glücksmomente wie das Zentralstück
       „bladelores“, dessen polternde Maschinenschläge wie eine melancholische
       Erinnerung an die optimistischen Zukunftsversprechen von Elektronikern der
       Kraftwerk-Generation wirken.
       
       Bei aller skeptischen Eintrübung, die man Autechre unterstellen mag, steht
       ihre Musik, gerade dadurch, dass sie klare Verweise auf irgendetwas
       außerhalb ihrer selbst weitgehend verweigert, gleichwohl in der Tradition
       von elektronischer Musik als künstlichem Paradies. Behaglich sind diese
       synthetischen Utopien gewiss nicht, dennoch öffnen sie einen
       Möglichkeitsraum, der sich fernab von eindeutigem Erzählen oder der
       Anpassung an die Erfordernisse des Clubs auftut und in dem sie sich mit
       „Exai“ so selbstverständlich wie schon lange nicht mehr entfalten.
       
       Ein überraschendes Zitat haben die zurückgezogenen Tüftler dafür im Stück
       „deco Loc“ versteckt: Auf einmal singt da, für Autechre sehr ungewöhnlich,
       eine menschliche Stimme. Zusammen mit dem kurzen Bass-Fragment klingt das
       Ganze verdächtig nach einem zerfledderten Schnipsel aus dem New-Wave-Hit
       „Being Boiled“ ihrer Sheffielder Vorläufer Human League. Ein Scherz
       vielleicht, aber ein guter.
       
       ## Autechre: „Exai“ (Warp/Rough Trade)
       
       4 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
       ## TAGS
       
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