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       # taz.de -- Nebenwirkungen bei Medikamenten: Ärzte im Unklaren gelassen
       
       > Mediziner verklagen den Pharmakonzern GlaxoSmithKline. Der soll die
       > Risiken des Antidiabetikums Avandia verschwiegen haben.
       
   IMG Bild: Pharmariese mit aufgebrachten Ärzten im Rücken: GlaxoSmithKline-Werk in Dresden.
       
       BERLIN taz | Es ist ein Novum in der Geschichte der juristischen
       Auseinandersetzungen mit der Pharmaindustrie in Deutschland: Mehrere Ärzte
       und ein ehemaliger Pharmamitarbeiter haben bei der Staatsanwaltschaft
       Hamburg Strafanzeige gegen die GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG erstattet.
       
       Sie werfen dem Medikamentenhersteller Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz
       sowie das Heilmittelwerbegesetz vor. „Wir tun das aus Verantwortung
       gegenüber der Bevölkerung“, sagte Bruno Müller-Oerlinghausen, emeritierter
       Professor für Klinische Psychopharmakologie aus Berlin und bis 2003
       Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, der taz.
       
       Gewöhnlich erstatten geschädigte Patienten derlei Anzeigen – etwa weil sie
       auf Schadenersatz hoffen. Den Ärzten geht es jetzt aber um anderes:
       Vertreter des Unternehmens GSK, das bis 2010 in Deutschland das
       Diabetes-Medikament Avandia (Wirkstoff: Rosiglitazon) verkaufte, hätten
       gravierende Nebenwirkungen des Präparats auf Fortbildungsveranstaltungen
       für Mediziner nicht oder nur unzureichend erwähnt.
       
       Wörtlich heißt es in der Anzeige: „Der Vertrieb des Arzneimittels wurde
       erst auf Verlangen der Arzneimittelbehörde beendet, obwohl die Beklagte
       spätestens seit 2007 sicher wusste, dass von dem Präparat bei
       bestimmungsgemäßem Gebrauch erhebliche gesundheitliche Gefahren für die
       behandelten Patienten ausgehen.“ Insbesondere sei GSK bekannt gewesen, dass
       die Einnahme des Medikaments ein erhöhtes Herzinfarktrisiko sowie die
       Gefahr kardiovaskulärer Erkrankungen bedeutete.
       
       ## Mehr geschadet als geholfen
       
       „Die Informationen in den von der Firma zu verantwortenden
       Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte über diese Risiken waren völlig
       unzureichend“, kritisierte Müller-Oerlinghausen. Zu befürchten sei, dass
       Ärzte mit der Verordnung des Präparats manchmal mehr geschadet als geholfen
       hätten. „Es ist nicht auszuschließen, dass deswegen auch Patienten
       gestorben sind.“
       
       Avandia ist nicht irgendein Diabetes-Medikament. In Europa wurde es im Jahr
       2000 aufgrund erheblicher Bedenken wegen seiner Nebenwirkungen erst im
       zweiten Anlauf zugelassen – ausschließlich als Zusatz zur Behandlung des
       Typ-2-Diabetes bei nicht ausreichender Wirksamkeit anderer Wirkstoffe. Dank
       massiver Werbekampagnen stieg Rosiglitazon jedoch binnen wenigen Jahren
       nach Angaben des pharmakritischen Medizinerinformationsdienstes
       arznei-telegramm aus Berlin „zum weltweit meist verkauften Antidiabetikum
       mit Jahresumsätzen bis zu 3,3 Milliarden US-Dollar“ auf.
       
       Die Unterzeichner der Strafanzeige, darunter Roland Holtz, ehemaliger
       Mitarbeiter verschiedener Pharmaunternehmen aus Hildesheim, der sich für
       unabhängige ärztliche Fortbildungen einsetzt, stützen ihre Vorwürfe auf
       Auswertungen von GSK-Studien, Veröffentlichungen im Forschungsmagazin New
       England Journal of Medicine, interne Firmendokumente sowie Warnhinweise und
       Stellungnahmen des arznei-telegramms. Die Unterlagen stammen aus dem
       Zeitraum zwischen 2004 und 2010. Müller-Oerlinghausen: „Die Firma hat
       wissend Ärzte nicht zureichend informiert und damit Patienten gefährdet.“
       
       ## Ruhende Zulassung
       
       Ein GSK-Unternehmenssprecher teilte der taz zu all diesen Vorwürfen mit:
       „Uns liegt keine Strafanzeige vor, und wir wissen von dieser auch lediglich
       über Ihre Anfrage. Daher können wir uns dazu und zu den entsprechenden
       Fragen nicht äußern.“ Der Sprecher wies allerdings darauf hin, dass die
       Zulassung von Avandia 2010 „von der Behörde […] nicht widerrufen oder
       zurückgenommen“ worden sei. Vielmehr habe die
       EU-Arzneimittel-Zulassungsbehörde EMA „im September 2010 empfohlen, die
       Zulassung der damals im Markt erhältlichen Diabetes-Medikamente von
       GlaxoSmithKline mit dem Wirkstoff Rosiglitazon ruhen zu lassen“. Und:
       Obwohl GSK „aufgrund der umfangreichen Studienlage auch weiterhin von einem
       positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis überzeugt“ gewesen sei, habe das
       Unternehmen „diesen Beschluss umgehend […] umgesetzt“.
       
       Ein Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, der
       deutschen Aufsichtsbehörde, bestätigte diese Darstellung, sagte jedoch:
       „Eine ruhende Zulassung bedeutet, dass das Medikament faktisch nicht mehr
       verkehrsfähig ist.“ Die schlechte Aufklärung über Produktrisiken ist kein
       Einzelfall: „Oft sind das nichts anderes als zu Fortbildungsveranstaltungen
       umdeklarierte Werbeveranstaltungen“, sagte die Geschäftsführerin des
       Ärztenetzwerks Mezis, Christiane Fischer.
       
       Der Skandal sei, so der Diabetologe Peter Sawicki, bis 2010 Leiter des
       Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, „dass
       die Ärztekammern für solche Veranstaltungen an Ärzte Fortbildungspunkte
       vergeben und die Fachgesellschaften bei Kongressen den Firmen dafür Raum,
       Publikum und einen Schein der Objektivität bieten“.
       
       3 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
       
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