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       # taz.de -- Foto-Ausstellung Wolfgang Tillmans: Der Messie unter den Fotografen
       
       > Komplex, nicht einordbar und schier unendlich vielfältig: Tillmans ist
       > bekannt für seine unzensierte, subjektive Sicht auf die Welt und zeigt
       > sie auch gerne.
       
   IMG Bild: Mehr Licht!
       
       Wolfgang Tillmans hat bereits über drei Stunden Presserummel inklusive
       Einzelgesprächen und Fotoshootings in seiner neuen Ausstellung im
       Düsseldorfer K21 hinter sich. Doch als er zum letzten Interview des
       Nachmittags mit einem lokalen Fernsehsender ansetzen will, erblickt er eine
       Museumsmitarbeiterin, die vor einem seiner monumentalen
       Freischwimmer-Fotografien auf einer Leiter steht und mit einer Taschenlampe
       den Zustand des Bildes überprüft.
       
       „Mit Licht auf Licht“, sagt Tillmans begeistert, entschuldigt sich,
       sprintet zu seiner Tasche, holt die digitale Spiegelreflex heraus und
       fotografiert die junge Frau, wie sie seine abstrakte Fotografie mit der
       Leuchte in der Hand untersucht. Als diese ihn bemerkt, lächelt sie
       schüchtern-verlegen, wie es nur Asiatinnen können.
       
       Bei anderen Fotografen würde man denken, dass dies ein nettes Foto für die
       private Erinnerungskiste ist. Bei Tillmans muss die Mitarbeiterin
       allerdings damit rechnen, demnächst Teil einer Ausstellung zu sein. Denn
       sie ist nun ein Teil seines Lebens geworden, sie ist ein Teil des
       Wolfgang-Tillmans-Universums. Und das ist sehr komplex, nicht einordbar und
       schier unendlich in seiner Vielfältigkeit: Wenn Fotografen Sammler sind,
       dann ist Wolfgang Tillmans der Messie unter den Fotografen.
       
       ## Ein Vagabund und visueller Vielfraß
       
       Denn im Gegensatz zu einem Sammler, der sich auf wenige Aspekte und auf
       wenige Phänomene konzentriert, dem zwar jedes einzelne Foto wichtig ist,
       bei dem aber meist das große Ganze, die Vollständigkeit im Zentrum steht,
       im Gegensatz dazu ist Tillmans ein Flaneur, ein Vagabund, ein visueller
       Vielfraß, der sich für alles und jeden interessiert, denn „ich will offen
       sein für das Leben mit seinen Überraschungen“, wie er sagt. Konzentration
       auf ein, zwei Sujets empfindet der gebürtige Remscheider hingegen als
       Einschränkung. Die Fotografie dient Tillmans als Werkzeug „um die Welt zu
       erkennen“.
       
       Was genau er in der Welt erkennt, zeigt er nun in einer „längst
       überfälligen Überblicksausstellung“, wie die Kunstsammlung NRW erklärt.
       Entsprechend gleicht die Schau mit ihren vierzehn Räumen, in der es keine
       Reihenfolge und keine Gewichtung gibt, auch einer fotografischen
       Wunderkammer, einer Ansammlung seiner „Greatest Hits und neuer Sachen“, wie
       er sagt. Es gibt Sequenzen wie die der Concorde, die er zu einem großen
       Tableau an die Wand geklebt hat, oder die Luftaufnahmen von Städten und die
       vergrößerten Zeitungsartikel, in denen es um Kriege geht.
       
       Vor allem aber sind es die scheinbar wirren Konstellationen aus
       unterschiedlichsten Einzelaufnahmen, die zu seinen bekannten, mit
       Tesastreifen und Binder Clips befestigten Wandinstallationen führen. Jedes
       Bild ist Teil des Ganzen, das auch alleine funktionieren muss, das aber
       niemals für das Ganze steht: der Tukan auf der Futterschale; Kate Moss im
       roten Kleid in einem roten Studio; der junge Mann mit dem
       Irokesenhaarschnitt, der auf einen grünen Stuhl uriniert; der Blick aus
       einem Fenster mit kleinen Caravaggio-Karten davor; die Nahaufnahme von
       Achselhaaren; der junge Araber in seinem Geschäft; der Hoden, der aus der
       Unterhose hängt; die Baggergreifzange mit einem Haufen Müll; Nahaufnahmen
       von Autoscheinwerfern; Menschen auf einer Sommerwiese. In Tillmans’
       Bildsprache ist das Semikolon das wichtigste Satzzeichen.
       
       Der große Vorteil von Tillmans-Ausstellungen, dass jeder etwas anderes in
       diesen offenen Bilderwelten sehen kann, ist zugleich ihr Nachteil: Es wirkt
       schnell beliebig. Das wird gerade in dieser Überblicks-Schau deutlich, die
       ja im Grunde aus einem guten Dutzend Einzelübersichten besteht – wer soll
       da noch nachvollziehen, um was es ihm, der den Turner Prize genauso
       verliehen bekommen hat wie den Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für
       Photographie, eigentlich geht? Ja, geht es ihm überhaupt um etwas
       Greifbares?
       
       Für seine Fotos vom Venustransit im Jahr 2004 hat Tillmans durch ein
       Teleskop geschaut. Schaut der Betrachter hingegen auf Tillmans, ist es der
       Blick durch ein knallbuntes Kaleidoskop, das sich bei jeder Bewegung zu
       verändern droht. Die große Klammer ist nur Tillmans selbst.
       
       Das ist wohl auch der Grund, warum der 44-Jährige einen so großen Einfluss
       auf die nachfolgende, unter dem Einfluss der Becher-Schule stehenden
       Generation hat, die seinen ungezwungenen „Anything goes“-Stil mit den
       frechen an die Wand geklebten Graustufen-Fotokopien und weiß geränderten
       Farbausdrucken liebt und oft übernommen hat.
       
       In Japan gilt Tillmans zudem als populärster, zeitgenössischer Fotograf aus
       Deutschland – mit seiner subjektiven Sicht auf die Welt kommt er der
       dortigen Variante der „Straight Photography“ sehr nahe: Bei einem Vortrag,
       den er anlässlich seiner ersten Ausstellung in Japan hielt, seien 1.000
       Besucher gekommen, worauf er seinen ersten und einzigen Nervenzusammenbruch
       erlitten habe, wie er sagt.
       
       Von einem Nervenzusammenbruch ist er in Düsseldorf weit entfernt. Dennoch,
       so gesteht er dem lokalen Fernsehteam am Ende des Presserundgangs: „Bei der
       Fülle, die hier gezeigt wird, ist es für mich schockierend zu sehen, was
       ich alles nicht geschafft habe zu zeigen.“ Die Besucher werden es ihm
       danken.
       
       4 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Damian Zimmermann
       
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