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       # taz.de -- Kolumne Nullen und Einsen: Mehr Kirschblüten fürs Internet
       
       > Die Snapchat-App bringt die süße Vergänglichkeit des Moments zurück ins
       > digitale Leben. Mit ihr verschickte Fotos verschwinden nach Sekunden.
       
   IMG Bild: Schön und bald wieder vergangen: Brillenvogel und Kirschblütenzweig
       
       Im Dezember war ich in Indonesien und hatte dort zwangsläufig auch mit
       Backpackern zu tun. Wie immer sprach man darüber, wo man schon war und wo
       man noch hinfährt. „Wir waren vorgestern in der Tempelanlage Sowieso“,
       sagte eine. „Wir haben voll gute Fotos gemacht.“ – „Als Nächstes fahren wir
       zu Vulkan XY“, sagte eine andere. „Ich hoffe sehr, dass wir da viele gute
       Bilder machen können.
       
       Vielleicht bin ich zu alt oder habe etwas falsch verstanden. Ich mache
       eigentlich dann Fotos, wenn ein Ort, an dem ich bin, sich als toll erweist.
       Aber ich suche mir doch nicht die Orte, an die ich fahre, danach aus, ob
       man tolle Fotos machen kann. Henne. Ei. Häh? Wenngleich ich das natürlich
       auch von mir kenne: Man kann so beschäftigt damit sein, das perfekte Bild
       von irgendwas zu machen, dass man anschließend vergisst, sich das Irgendwas
       auch ohne Kamera anzugucken. Man hat ja das Foto! Das dann die nächsten 20
       Jahre im „Unsortierte Fotos 2012“-Ordner liegt.
       
       Dass die Speicherbarkeit des Moments den Moment selbst verdrängt, ist nun
       überhaupt nicht neu. „Menschen machen Fotos von dem Sommer / damit bloß
       niemand misstrauisch zweifelt / zu beweisen, dass er wirklich da war (…)
       Menschen machen Fotos gegenseitig / in dem Glauben, dass jene Momente / für
       alle Zeiten lebendig blieben“, [1][sangen die Goldenen Zitronen] 1994, und
       das war auch bloß ein texttreues Cover eines Kinks-Songs von 1968. Aber im
       Zeitalter des digitalen Fotografierens und öffentlichen Teilens ist das
       alles besonders augenfällig. [An dieser Stelle bitte einen Witz über
       [2][Instagram-Fotos von kalt gewordenem Essen hindenken].]
       
       Und genau deswegen ist [3][Snapchat] so toll. Snapchat ist eine
       Smartphone-App, mit der man Freunden Bilder und sehr kurze Videos schicken
       kann, die sich nach spätestens 10 Sekunden Anschauen selbst löschen. Es
       lohnt gar nicht, sich irre viel Mühe mit dem Foto zu geben. Gleichzeitig
       wird der Moment des Anschauens wirklich wieder zu einem Moment – den in den
       meisten Fällen einzig der Absender und der Empfänger exklusiv teilen.
       
       Mono no aware nennt man in Japan die Ergriffenheit über die Vergänglichkeit
       der Dinge, die Kirschblüte ist der bekannteste Ausdruck dieses Prinzips. Es
       wäre toll, wenn das ganze Internet ein bisschen kirschblütiger wäre. Seit
       Wochen unangerührte Mails und geöffnete Browsertabs mit Texten, die man
       „unbedingt später lesen will“, könnten ruhig heimlich verschwinden. Oder
       alte Chatprotokolle, die von unglücklich Verliebten noch 200-fach gelesen
       und kaputtinterpretiert werden.
       
       Mein erster empfangener Snap war übrigens ein Foto von Sascha Lobo,
       aufgenommen von Sascha Lobo. Mein zweiter versendeter war ein Katzenfoto.
       Dann bekam ich ein Bild, auf das groß und rot JETZT WIRD’S META gekritzelt
       stand, es zeigte den Facebookkommentarstrang unter meinem Aufruf, mir Snaps
       zu schicken. Aus Kalifornien erfuhr ich 15 Minuten später, dass man
       Snapchat dort schon seit ein paar Tagen wieder langweilig findet.
       Verdichteter kann man den Hype Cycle einer Internetanwendung wohl nicht
       erleben.
       
       1 Mar 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.youtube.com/watch?v=avBgObEb99M
   DIR [2] /Kolumne-Lustobjekte/!94467/
   DIR [3] http://www.snapchat.com/
       
       ## AUTOREN
       
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