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       # taz.de -- Debatte Sexismus: Flirt ist Flirt
       
       > Die Debatte um Rainer Brüderle hat gezeigt, dass die Mehrheit der
       > Deutschen nicht halb so emanzipiert ist, wie wir dachten. Eine Nachlese.
       
   IMG Bild: Brüderles Grenzverletzung: Auch der Düsseldorfer Karnevalsumzug griff die Debatte auf.
       
       Liebe Männer und männerähnliche Wesen im taz-Kosmos, wann habt ihr zum
       letzten Mal im angeregten Gespräch den Busen einer Bekanntschaft
       kommentiert? Wenn ihr eine professionelle Arbeitsbeziehung hattet?
       
       Ja, da müssen die meisten schon scharf nachdenken. Weil der Intimbereich in
       diesem Milieu meist geachtet wird. Und weil Bemerkungen über die Busengröße
       in einer unguten Tradition stehen. Eine Tradition, in der Männer über
       Körbchengrößen fachsimpeln wie auf dem Fleischmarkt. Und Frauen damit wie
       ein Sexspielzeug behandeln.
       
       Man nennt diese Art von Sexismus auch Diskriminierung. Aber die
       Sexismusdebatte um den „Herrenwitz“ des FDP-Spitzenkandidaten Rainer
       Brüderle hat gezeigt, dass diese schlichte Tatsache vielleicht in
       linksliberalen Kreisen, in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit aber
       noch nicht angekommen ist.
       
       Selten ist, dank des „Aufschreis“ einiger hundert Frauen auf Twitter, so
       deutlich geworden, dass wir in einer Gesellschaft leben, die Frauen auch
       auf dieser Ebene diskriminiert. Und die Medien führten diese
       Diskriminierung munter fort, wie eine Nachlese zeigt.
       
       ## Eine Grauzone? Eben nicht
       
       Unerwünschte Bemerkungen sexuellen Inhalts sind das, was das Allgemeine
       Gleichbehandlungsgesetz „sexuelle Belästigung“ nennt. Männer belästigen,
       wenn sie sich besonders männlich fühlen wollen. Manche machen die Frau
       dabei herunter, andere zeigen nur Dominanz, indem sie die Intimgrenzen der
       Frau verletzen.
       
       Genau diese Grenzverletzung nennt noch heute ein erstaunlich großer Teil
       der Öffentlichkeit tatsächlich „Erotik“ oder „Flirt“, so etwa weite Teile
       der FDP inklusive der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
       die Hüterin des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, die qua Amt wissen
       sollte, was eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist.
       
       Im Cicero befand Alexander Grau, dass Brüderles Vorgehen „mit Sexismus
       nichts zu tun“ habe, denn schließlich habe nur ein Mann eine Frau
       angemacht. Henryk M. Broder meint, dass dann ja jeder Blick, den ein Mann
       einer Frau zuwerfe, sexistisch genannt werden könne. Und Hellmuth Karasek
       ist bass erstaunt ob der Erkenntnis, dass eine Frau selbst bestimmen darf,
       welches Verhalten sie sexistisch findet. Als scheunentorweit offene Frage
       bleibt bestehen, warum viele Männer und einige Frauen konsensuelles
       Gefrotzel, Gebaggere und auch derbe Flirts jenseits der Gürtellinie nicht
       von unerwünschtem Verhalten unterscheiden können. „Kompliment oder
       Übergriff?,“ fragt ergebnisoffen die Frauensendung „Mona Lisa“ im ZDF.
       
       Diese Umbenennung steht ebenfalls in einer schrecklichen Tradition:
       „Erotik“ und „Flirt“ wird hier genannt, wenn ein Mann die Grenze einer Frau
       überschreitet – ohne deren Einverständnis. Jahrelang hatten wir uns schon
       im Konsens gewähnt: Flirten ist das, was beide wollen, Erotik gibt es nur
       mit Einverständnis. Nein heißt Nein. Dieser Konsens wird nun wieder
       verletzt, indem eine Grenzüberschreitung als „Flirt“ bezeichnet wird. Das
       ist eine der Diskriminierungsstrategien, mit denen wir im Nachgang der
       Sexismusdebatte zu tun haben.
       
       ## Diskriminierung wird verharmlost
       
       Ein weiteres Argumentationsmuster, mit dem die Diskriminierung
       aufrechterhalten wird: Verharmlosung. Gabor Steingart belustigt sich über
       die „Bonsai-Debatte“ (im Handelsblatt Morning Briefing). In zahllosen
       Texten ist von „grober Unhöflichkeit“ und von „locker gemeinten“, von
       „dämlichen“, „dahergeplapperten“, „von großem männlichen Selbstbewusstsein
       zeugenden“ Sprüchen, in denen „nicht alles druckreif formuliert“ war, oder
       von „schlechten Manieren“ die Rede.
       
       Viele Frauen meinen, ebenfalls verharmlosend, Frauen seien doch stark
       genug, sich gegen so etwas zu wehren oder es wegzustecken. Die
       Journalistinnen Wibke Bruhns (ehemals Stern) und Christiane Hoffmann
       (Spiegel) sind darunter. Ohne zwei Diskriminierungsformen gleichsetzen zu
       wollen: Stellen Sie sich kurz einmal vor, wir wären der Ansicht, schwarze
       Menschen seien sicher selbstbewusst genug, Diskriminierungen selbst zu
       kontern oder wegzustecken.
       
       Eine weitere Strategie: Die Frauen, die sich beschweren, werden
       pathologisiert und in eine undemokratische Tradition gestellt – sie wollten
       Zensur ausüben. Das ist eine Form der Täter-Opfer-Umkehr. So fragt die
       Anne-Will-Redaktion, ob der Aufschrei „notwendig“ oder vielleicht doch eher
       „hysterisch“ sei.
       
       Eine ganze Flotte von AutorInnen beklagt, dass Flirt und Erotik nun bald
       verboten werden sollen – und die Geschlechterbeziehungen durch solche
       Zensur veröden würden. So menetekelte Christiane Hoffmann im Spiegel von
       einem „moralpolizeilich gesicherten Umfeld“, in dem sie nicht arbeiten
       wolle.
       
       ## Und die Machtverhältnisse …
       
       Blaming the victim in Reinform: FDP-Borderliner Wolfgang Kubicki, der nun
       keine Frauen mehr im Auto mitnehmen will. Die könnte ihm ja Sexismus
       anhängen. Peinliche Reaktion darauf: Die weibliche Hauptstadtpresse
       diskutiert ernsthaft über die Nachteile, die Journalistinnen aus der
       Brüderle-Affäre erwachsen könnten.
       
       Eine weitere Form der Täter-Opfer-Umkehr: Beklagen, dass Männer auch
       diskriminiert werden und nur die Frauen dank ihres „Opfer-Abos“ (Jörg
       Kachelmann) wahrgenommen werden. Sind nicht die Männer mittlerweile die
       eigentlich diskriminierten?
       
       Ja, es gibt Sexismus gegenüber Männern. Er ist nur nicht eingebunden in
       eine Gesellschaft, in der Frauen dominieren und diese Dominanz mit Sexismus
       markieren. Meist sind sie schlicht nicht in der Position dafür. Sind sie es
       doch, gehört auch ihr Sexismus geahndet. Ein Grund mehr, Diskriminierungen
       wahr- und ernst zu nehmen.
       
       Und, ja, Männer haben auch massive Nachteile in unserer Gesellschaft. Man
       kann aber nicht die eine diskriminierte Gruppe mit der anderen aufwiegen.
       Beide müssen geschützt werden.
       
       Der Stern-Artikel von Laura Himmelreich und der folgende Twitter-Aufschrei
       haben all diese Strategien sichtbar gemacht. Die Debatte ist bis in die
       Boulevardpresse vorgedrungen. Das alles ist positiv – aber wir werden uns
       wohl noch eine Weile über die Argumentationen gruseln müssen.
       
       26 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heide Oestreich
       
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