URI: 
       # taz.de -- Die Oscar-Nacht: Wie Kirche
       
       > Bescheiden-trotzig, angemessen beeindruckt und immer nah am Kinogott: Die
       > Oscars entfalteten wieder einmal ihre Sogwirkung, boten aber wenig
       > Überraschendes.
       
   IMG Bild: Ihre Gebete wurden erhöht: Oscar-Preisträger Daniel Day Lewis, Jennifer Lawrence, Anne Hathaway, Christoph Waltz (v.l.).
       
       Die Oscars haben viele Namen – von „Olympiade des Films“ bis zu „Mutter
       aller Preiszeremonien“. Der diesjährige Showmoderator Seth MacFarlane fügte
       im Laufe des Sonntagabends in Los Angeles einen weiteren Vergleich hinzu:
       „Ein Sonntag, alle sind fein gekleidet – es ist wie Kirche, nur dass mehr
       Menschen beten.“ Und dass ihnen dabei weltweit ein paar Hundert Millionen
       vom Fernseher aus zuschauen, möchte man hinzufügen. Wobei einige dieser
       Zuschauer wohl selbst mitbeten.
       
       Denn das ist das eigentlich Unglaubliche an den Oscars: welche Sogkraft sie
       entwickeln können, damit man sich mit ihnen beschäftigt. Sind im Dezember
       noch die meisten Filmfans der Ansicht, dass die Goldstatuen doch eigentlich
       nichts bedeuten, weil viel zu oft diejenigen, die es wirklich verdient
       hätten, übersehen wurden (aus dem Hintergrund ruft es „Hitchcock!“), gibt
       es unmittelbar vor der Verleihung kaum jemanden, der nicht heimlich
       irgendwo ein „Oscar Ballot“, einen eigenen Stimmzettel ausgefüllt oder doch
       wenigstens eine Wette über die Wahl des besten Films abgeschlossen hat.
       
       Nach der Verleihung aber, passenderweise ist das in Europa schon der Tag
       danach und dazu der frühe Montagmorgen, kratzt sich alles wie verkatert den
       Kopf: Das soll mal wieder alles gewesen sein? Und die Ironie will es, dass
       sich sowohl diejenigen, die es richtig vorhergesagt haben, als auch die,
       die falsch getippt haben, irgendwie enttäuscht fühlen.
       
       ## Die sprichwörtlichen Spatzen
       
       Die ersteren klagen über zu wenig Überraschung, die letzteren darüber, dass
       eben mal wieder nicht die Richtigen (und aus dem Hintergrund wieder:
       „Hitchcock!“) gewonnen haben.
       
       Dass Ben Afflecks „Argo“ als bester Film ausgezeichnet würde, das hatten
       zuletzt die sprichwörtlichen Spatzen von den Dächern gepfiffen. Für das
       Warum gibt es hinreichende Erklärungen: ein Film, in dem Hollywood selbst
       vorkommt und zwar als verschworene Truppe gewiefter Veteranen, die heimlich
       (!) die Leben von sechs im Iran festsitzenden Amerikanern retten – wie
       könnte die „Academy“ diesem schmeichelnden Selbstporträt widerstehen.
       
       Zumal Regisseur Ben Affleck gerade dadurch, dass ihm eine Nominierung für
       die beste Regie vorenthalten wurde, zu jener Art „Underdog“ wurde, den man
       besonders gerne am Ende, in aller Bescheidenheit natürlich, triumphieren
       sieht. Und auch wenn unter den neun Mitbewerberfilmen solche sind, die
       gewichtigere Themen behandeln („Lincoln“, „Zero Dark Thirty“), visuell
       („Life of Pi“), spirituell („Amour“) oder einfach insgesamt interessanter
       („Beasts of The Southern Wild“) sind, so kann man sich bei „Argo“ doch auf
       eines einigen: er ist ausgesprochen unterhaltsam.
       
       Die Überraschung des Abends war denn auch keine mehr: dass Steven
       Spielbergs „Lincoln“, einst mit 12 Nominierungen als haushoher Favorit
       angetreten, nur zwei Oscars mit nach Hause nehmen konnte, das hatte sich
       lange schon abgezeichnet – und bildet sicher Stoff für künftiges
       Kopfschütteln.
       
       ## Unergründlicher Kirchengott
       
       Ang Lee, der Spielberg in der Kategorie Bester Regisseur schlug, dankte
       gewissermaßen konsequent dem „movie god“. Wie MacFarlane sagte, die Oscars
       sind eben doch „wie Kirche“ und die Wege des Herrn Kinogott unergründlich.
       
       In den vier Schauspielkategorien lief alles sozusagen nach Plan. Christoph
       Waltz durfte mit seinem bereits zweiten Oscar als bester Nebendarsteller
       Tarantinos den Abend eröffnen, den in einer Nebengeschichte die
       Österreicher als den Ihren bezeichnen – später gewann Michael Haneke für
       „Amour“ den Auslandsoscar. Ann Hathaway nahm erwartet tränenerstickt ihre
       Auszeichnung für ihren Auftritt im Musical „Les Misérables“ an. Jennifer
       Lawrence („Silver Linings Playbook“) siegte über Emmanuelle Riva („Amour“),
       der viele Kritiker den Vorzug gegeben hätten.
       
       Aber dann stolperte Lawrence beim auf die Bühne Klettern über ihr
       prächtiges Kleid, bedankte sich so bescheiden-trotzig für die „standing
       ovation“, die sie bekam („Ihr seid doch nur aufgestanden, weil ich
       gestolpert bin“) und war überhaupt so umwerfend charmant und lebendig, dass
       man ihr den Oscar doch noch aus vollen Herzen gönnte. Zumal sie die Grazie
       besaß, „Emmanuelle“ einen herzlichen Geburtstagsgruß zuzurufen. Riva
       nämlich ist am Oscar-Tag 86 geworden.
       
       Wer nun gedacht hätte, dass Lawrence‘ Auftritt an Charme und Rührung nicht
       beizukommen wäre, den belehrte Daniel Day-Lewis in der nur ihm eigenen
       Mischung aus Humor und Demut eines Besseren. Day-Lewis war als bester
       Schauspieler kein Favorit mehr, sein „Sieg“ hatte als so sicher gegolten
       wie sonst nur noch Hanekes Auslandsoscar für „Amour“.
       
       ## Die „Eiserne Lady“ Lewis
       
       Und trotzdem zeigte der britisch-irische Schauspieler sich so angemessen
       beeindruckt von der Würdigung, wie es das Oscar-Publikum eben verlangt. Und
       dazu machte er liebevolle Scherze darüber, dass er und Meryl Streep, die
       ihm die Statuette übergab, erst vor wenigen Jahren getauscht hätten –
       eigentlich hätte nämlich er die „Eiserne Lady“ spielen sollen...
       
       Apropos Rührung: Tränen in die Augen des Publikums trieb auch der Auftritt
       der 76-jährigen Shirley Bassey, die außerdem bewies, dass man nicht jeden
       Ton richtig treffen muss, um einen Saal zu bewegen. Oder auch Christopher
       Plummer, der als Trophäen-Überreicher wohl der einzige war, der seine
       Ansprache selbst geschrieben hat. Oder auch Adele, die für ihren Song
       „Skyfall“ einen der raren Oscars für die Bond-Serie holte, und wohl die
       einzige war, die das Mikrofon bei der Dankesrede vorzeitig von sich stieß,
       weil sie vor Rührung nicht mehr konnte.
       
       So musste bei ihr einmal nicht das Orchester einschreiten, das in diesem
       Jahr ausgerechnet mit dem „Weißen Hai“-Thema diejenigen von der Bühne
       jagte, die zu lang redeten.
       
       Als eine der wenigen echten Überraschungen galt am Ende die Zuschaltung aus
       dem Weißen Haus, als der Oscar für den besten Film verkündet wurde.
       Michelle Obama höchstselbst öffnete den Umschlag und machte in diesem
       Moment sogar vergessen, dass Seth MacFarlane den Abend Stunden vorher noch
       mit einem Song begonnen hatte, der Schauspielerinnen mit dem recht
       geschmacklosen Refrain besang: „We Saw Your Boobs“ („Wir haben deine Brüste
       gesehen“).
       
       25 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Schweizerhofer
       
       ## TAGS
       
   DIR Oscars
   DIR Oscarverleihung
   DIR Kino
   DIR Hollywood
   DIR Film
   DIR Oscars
   DIR Oscars
   DIR Oscars
   DIR Oscars
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Oscar-Nominierungen bekannt gegeben: Bildgewalt und Staraufgebot
       
       Die US-Filme „Gravity“ und „American Hustle“ gehen als Favoriten ins
       Oscar-Rennen. Für die Deutschen sieht es schlechter aus.
       
   DIR Oscar für „Argo“: Ergo gab's Ärger
       
       Im Iran ist man erbost über den Oscar für Ben Afflecks Polit-Thriller. Und
       darüber, dass er von Michelle Obama persönlich verkündet wurde. Ein
       Gegenfilm ist in Planung.
       
   DIR 85. Oscar-Verleihung: Der Daniel wieder
       
       Ben Affleck liefert mit „Argo“ den besten Film ab, Daniel Day-Lewis stellt
       einen Oscar-Rekord auf und zwei Österreicher nehmen Gold-Statuen mit nach
       Hause.
       
   DIR Oscar-Verleihung: Zwischen den Werbepausen
       
       Das Oscar-Rennen ist offener denn je. Denn erstmals dürfen alle
       Akademie-Mitglieder abstimmen und nicht nur die, die bei einer Vorführung
       anwesend waren.