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       # taz.de -- Wahlen in Italien: Truthahn auf dem Dach
       
       > Vier Kandidaten kämpfen um die Gunst der Italiener – sogar der alte
       > Berlusconi mischt wieder mit. Der Ausgang ist so offen wie lange nicht.
       
   IMG Bild: Auf dem Weg zur Wahl.
       
       ROM taz | Grau, regnerisch, kalt – die Wettervorhersage passt zu der
       Stimmung, in der am Sonntag und Montag 50 Millionen Italiener an die Urnen
       gehen. Die Rezession hat das Land fest im Griff, Monat für Monat gehen
       Zehntausende Arbeitsplätze verloren, europäische Spardiktate lassen der
       zukünftigen Regierung kaum Spielraum.
       
       Und doch: Italien steht vor einer Schicksalswahl – für das Land, aber auch
       für ganz Europa. Der Ausgang ist so offen wie lange nicht. In den
       vergangenen 20 Jahren konnten sich die Wähler nur zwischen Silvio
       Berlusconi auf der einen und den Linken auf der anderen Seite entscheiden.
       
       Jetzt kämpfen gleich vier ältere Herren um einen Platz auf dem
       Siegertreppchen, und gleich zwei von ihnen haben „Merkel-Europa“ den Krieg
       erklärt.
       
       ## Gemäßigt linker Favorit
       
       Endgültig entzaubern möchte der 61-jährige Chef der gemäßigt linken Partito
       Democratico (PD) mit seiner Mitte-links-Allianz den „Jaguar“ Berlusconi. Am
       liebsten zeigt sich der Sohn eines Tankwarts und studierte Philosoph aus
       der norditalienischen Emilia Romagna volksnah, mit aufgekrempelten
       Hemdsärmeln – zugleich aber sucht er maximalen Abstand zu „Populisten“
       jedweder Couleur.
       
       „Un’Italia giusta“, ein „gerechtes Italien“ verheißt Bersani seinen
       Wählern, viel mehr aber auch nicht. Er verspricht ein höchst bescheidenes
       staatliches Investitionsprogramm, 7 Milliarden Euro gestreckt auf drei
       Jahre, um das Wachstum anzukurbeln.
       
       Ansonsten ist Bersani selbst das Versprechen: Als Wirtschaftsminister unter
       Romano Prodi, in den Jahren von 2006 bis 2008, legte er sich entschlossen
       wie kein anderer italienischer Politiker vor oder nach ihm mit der Lobby
       der Apotheker, der Banken oder Versicherungen an. Solide, sozial gerecht,
       europakonform wäre der Kurs einer Regierung Bersani.
       
       Seine Maxime, ausgeliehen und leicht abgewandelt nach einem Gespräch mit
       dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel: „Lieber den Spatz in der Hand als den
       Truthahn auf dem Dach.“ Nach den letzten Meinungsumfragen kann Bersanis
       Allianz mit guten 35 Prozent rechnen.
       
       ## Verspricht das Blaue vom Himmel
       
       Das ganze Land grübelte tagelang, was der Truthahn eigentlich auf dem Dach
       treibt, dabei liefert einer im Wahlkampf ununterbrochen die Antwort: Silvio
       Berlusconi. In alter 76-jähriger Jugendfrische, geliftet, geschminkt, das
       Haar pechschwarz asphaltiert und immer ein Haifischgrinsen im Gesicht,
       tingelt er von einem Fernsehinterview zum anderen und verspricht das Blaue
       vom Himmel herunter.
       
       Vier Millionen Arbeitsplätze am einen Tag, die Brücke von Messina – sie
       soll Sizilien mit dem Festland verbinden – am anderen. Die Krise? Kein
       Problem. Italien muss es nur der Merkel richtig zeigen: „Schluss mit dem
       deutschen Europa!“
       
       Am Ende lockt seine Rechtsallianz dann aber auch vor allem mit einem Spatz
       in der Hand. Millionen Bürger bekamen in diesen Tagen Post: „Wichtige
       Nachricht: Rückerstattung der Grundsteuer 2012“. Ganz amtlich kam das
       Schreiben daher, in Behördenton wurde den Wählern erklärt, dass sie sich
       bei Berlusconis Sieg aufs Postamt begeben könnten, um die im letzten Jahr
       entrichtete Grundsteuer zurückzuholen.
       
       Dutzende Rentner sollen schon an die Schalter geströmt sein, um sich das
       passende Formular aushändigen zu lassen – das es natürlich gar nicht gibt.
       „Wahlbetrug! Wählerbestechung!“, hieß es empört aus allen anderen Lagern,
       und Europa zittert angesichts der Vorstellung, der Mann könne wieder das
       Rennen machen.
       
       Doch Berlusconi weiß nur zu gut, dass er auf einen schmerzfreien Kern der
       Wählerschaft zählen kann, dem auch der kleinste unmittelbare Vorteil
       wichtiger ist als die Perspektiven des Landes – bis zu 30 Prozent trauen
       die Meinungsforscher seinem Lager zu. Von einer „Regierung von Schurken“
       habe er im November 2011 die Geschäfte übernommen, wettert denn auch Mario
       Monti, noch amtierender Chef einer Expertenregierung – und jetzt
       Frontrunner von „Scelta civica“, der „Bürgerlichen Entscheidung“, einer
       gemäßigt rechten, seriös und proeuropäisch auftretenden Allianz.
       
       ## Charme eines Eiswürfels
       
       Im nächsten März wird Monti 70, doch der Ökonomieprofessor und frühere
       EU-Kommissar inszeniert sich als das wahre Novum der italienischen Politik.
       Weg mit den Versagerparteien, Platz für seriöses Sparen, für einschneidende
       Reformen im Geist der Marktliberalisierung: Dies ist Montis Angebot.
       
       Dumm nur, dass ihm der Charme eines Eiswürfels zugeschrieben wird, dass er
       als genauso kompetent wie kalt gilt. Im Wahlkampf suchte Super-Mario
       nachzubessern, ließ sich in einer Talkshow einen kleinen Welpen schenken,
       den er dann auch noch „Empathie“ taufte, und tollte in TV-Spots mit seinen
       Enkelchen über den Teppich.
       
       Viel genützt hat es dem Kandidaten nicht, wohl etwa 10 Prozent könnten ihr
       Kreuz bei Monti machen, schätzen die Meinungsforscher. Mehr als die Rolle
       des Juniorpartners in einer Koalition mit Bersani ist deshalb wohl nicht
       drin.
       
       Platz drei auf dem Treppchen, noch vor Monti, könnte Beppe Grillo erobern.
       „Ab nach Hause“ mit den Altparteien, verkündete der 65-jährige Komiker,
       absoluter Herrscher in der von ihm ins Leben gerufenen
       Fünf-Sterne-Bewegung, landauf, landab.
       
       ## Fans von links bis rechts
       
       Kein einziger TV-Auftritt im ganzen Wahlkampf, dafür Dutzende Kundgebungen
       auf immer brechend vollen Plätzen: Schon im Kampagnenstil wollte Grillo
       zeigen, dass er „anders“ ist. Steuerstreichungen für die Unternehmer,
       Grundeinkommen für die jungen Arbeitslosen, drastische Kürzungen im
       Rüstungsetat, ökologische Wende und Verteidigung des staatlichen
       Gesundheitssystems: Seine Versprechen bescheren ihm regen Zulauf von links
       genauso wie von rechts.
       
       Und ganz wie Berlusconi will Grillo von den Zwängen der Eurokrise nichts
       wissen: „Alle europäischen Verträge müssen neu verhandelt werden“, fordert
       er ein ums andere Mal, und Italiens Euromitgliedschaft müsse auf den
       Prüfstand eines Volksentscheids.
       
       An die 15, womöglich gar 20 Prozent werden Grillo zugetraut, und ein
       Resultat steht damit jetzt schon fest: Italien bekommt das
       europaskeptischste Parlament seit Jahrzehnten.
       
       23 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
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