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       # taz.de -- Elektronik-Folk aus Englands Norden: Sehnsucht nach grünen Bergen
       
       > Das britische Elektronik-Trio Darkstar hat mit „News from Nowhere“ ein
       > digitales Folk-Meisterwerk aufgenommen. Weitab von London.
       
   IMG Bild: In Englands Norden gezogen: James Young, James Buttery, Aidan Whalley von der Band Darkstar.
       
       Vom englischen Süden aus betrachtet ist Nordengland ein Niemandsland:
       deindustrialisiert, bezuschusst und kulturell mindestens fünf Jahre hinter
       dem Londoner Stand der Dinge zurückgeblieben. Aber wie immer, wenn sich das
       Zentrum zum Maß der Dinge erklärt, erblüht an den Rändern die
       Eigentümlichkeit. Der Norden ist nicht nur die Heimat von Englands großen
       Alltagsdichtern, sondern auch von Dandys aus der Arbeiterklasse und einem
       nicht kleinzukriegenden Willen, dem vorgezeichneten Lebensweg per Kunst
       entkommen zu wollen.
       
       Und von Darkstar. Nach Huddersfield, einer Kleinstadt zwischen Leeds und
       Manchester, hat sich das Trio zurückgezogen, in den Norden Englands, ihre
       Heimat. In eine Stadt, in der die Pubs um elf Uhr schließen.
       
       „News from Nowhere“ – „Kunde von Nirgendwo“, so der deutsche Titel – ist
       ein utopischer Roman aus dem späten 19. Jahrhundert, geschrieben vom
       Sozialisten William Morris. Ein Besucher aus dem Industriezeitalter reist
       durch England und lernt, wie sich die Menschen von der industrialisierten,
       entfremdeten Arbeit verabschiedet haben. Stattdessen gehen sie
       selbstbestimmt ihren Bedürfnissen nach.
       
       Ein weiter Weg für eine Band, die nach einigen Maxisingles als
       Hoffnungsträger für die Londoner Bassmusikszene in der Ära Post-Dubstep
       angesehen wurde. „Wir haben uns schon mit ’North‘ aus dieser Szene und
       ihrem ewigen Konkurrenzdenken verabschiedet“, meint Keyboarder Aidan
       Whalley. Die spärlichen Synthesizerarrangements und der fragile Gesang, der
       sich nicht für transzendentale Überhöhung interessierte, waren ein Bruch
       mit den auf den Dancefloor orientierten Szenecodes in London.
       
       ## Großgeworden in der Bassmusikszene von London
       
       Trotzdem hört man auch „News from Nowhere“ das Coming-of-Age der drei
       Musiker in der Londoner Bassmusikszene an. „Wir denken immer noch in Loops,
       die 16 Takte lang sind“, erzählt Sänger James Buttery. Die Drums verteilen
       sich präzise über die Tracks und erzeugen damit einen eigentümlich
       schleppenden Groove. Aber das alles durchdringende Gefühl von Ermattung von
       Darkstars Debütalbum ist Synthesizerloops gewichen, die sich mit
       mehrstimmigen Elegien über Unabhängigkeit und Lohnarbeit kreuzen.
       
       „Kurz nachdem wir London verlassen haben, brachen vor unserer Haustür die
       Riots aus“, erzählt James Buttery, „daraufhin haben wir ’A day’s pay for a
       day’s work‘ geschrieben.“ Über einem digital verfremdeten Piano singt
       Buttery „I never cared so much with losing touch“, eine anti-eskapistische
       Ballade über die feinen Unterschiede zwischen subkulturellem Kapital und
       abgehängter Armut, die im britischen Alltag dennoch dicht nebeneinander
       existieren. Gerade diese Beobachtungsgabe unterscheidet Darkstar von den
       nach innen gekehrten Retroballaden britischer Neofolker wie Mumford and
       Sons.
       
       Denn „News from Nowhere“ verschiebt das Bedürfnis nach emotionaler
       Glaubwürdigkeit in all die Synthesizer, Plug-ins und feinziselierten
       Bearbeitungen der Gesangsspuren, die sich über den folkigen Melodien
       auftürmen. Darkstars eh schon hauchdünne Stimmen werden weiter verfremdet,
       die Bearbeitung verleiht der Musik eine Tiefe, die die Last des
       Gefühlsausdrucks von den Subjekten nimmt. Die Maschinen produzieren die
       Gefühle, die Menschen bedienen diese nur.
       
       ## Aus der Vergangenheit die Zukunft herauslesen
       
       „News from Nowhere“ ist dennoch kein futuristisches Manifest der
       Verschmelzung von Mensch und Maschine. Sondern eine Rückkehr in das
       elektrische Eden des britischen Psychedelic-Folk, dieser mythischen
       Überlagerung von Vergangenheit und Zukunft – eine Nostalgie nach Englands
       grünen Bergeshöhen, die sich nur unter den Bedingungen von Massenkonsum und
       Tonträgern herausbilden konnte. „Aus der Vergangenheit die Zukunft
       herauslesen, wer hätte es nicht versucht?“, schreibt William Morris in
       seinem Roman.
       
       Bei Darkstar wird das elektrische Eden endgültig digital. „Bei Folk denke
       ich immer an Leute mit Gitarren, aber der Laptop hat das komplett ersetzt“,
       meint James Buttery. Auch „News from Nowhere“ ist mit dem Laptop
       aufgenommen, die Instrumente werden auf Chips berechnet und die endlosen
       Variationen ihrer Stücke im Sequencer immer wieder aufs Neue arrangiert.
       
       Trotzdem erhielt „News from Nowhere“ seinen mit analogem Rauschen
       gesättigten Sound an einem anderen Ort: den Tonbandmaschinen des
       Produzenten Richard Formby. „Richard hörte sich unsere Aufnahmen an“,
       erzählt Buttery, „dann meinte er: ’Das klingt nach Laptop, lassen wir es
       doch nach Schallplatte klingen.‘“ Und so entstand „News from Nowhere“ am
       Mischpult von Formby ein zweites Mal.
       
       Steckt bei so viel Arbeit und Anspielungen nicht vielleicht doch ein
       Konzept hinter dem Album? „Nein. Wir sind in ein Haus im Norden Englands
       gezogen und haben zehn Stücke geschrieben und zufällig ist dabei ’News from
       Nowhere‘ entstanden“, behauptet James Buttery. „Eigentlich ist das schon
       ein ziemlich großer Schritt.“
       
       Im Süden Englands ist William Morris beerdigt – wenn er noch leben würde,
       zu dieser Musik würde er zustimmend nicken. Denn so wie Darkstar ihre Musik
       produzieren, hat er sich ein gutes Leben immer vorgestellt.
       
       ## Darkstar, „News from Nowhere“ (Warp/Rough Trade)
       
       14 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Werthschulte
       
       ## TAGS
       
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