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       # taz.de -- Debatte Sexualstrafopfer: Bestrafen und heucheln
       
       > Gerechtigkeit durch harte Strafen: In Sexualdelikten steht meist der
       > Täter im Mittelpunkt, das Opfer jedoch kommt oft zu kurz.
       
   IMG Bild: Der Täter steht im Mittelpunkt, nicht das Opfer.
       
       Ein Frau wird von ihrem Vater viele Male vergewaltigt. Mit 17 Jahren hat
       sie den Mut, Anzeige zu erstatten. Im Laufe des Verfahrens stellt sich
       heraus, dass der Vater auch seine anderen fünf Kinder, Jungen wie Mädchen,
       sexuell missbraucht hat. Die Frau muss vor Gericht als Zeugin erscheinen.
       Der Vater wird zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
       
       Um das Opfer kümmert sich niemand, ihre Mutter wendet sich von ihr ab, da
       sie die Familie zerstört habe. Heute ist die Frau um die 50, leidet unter
       vielerlei körperlichen und psychischen Beschwerden und ist in dauernder
       ärztlicher Behandlung. Ihre Anträge auf finanzielle Entschädigung wurden
       abgelehnt. So weit ein Fall aus der Praxis.
       
       Seit es Staaten gibt, stehen die Täter im Mittelpunkt ihres Strafrechts.
       Dies gilt auch bei schweren Gewalt- und Sexualstraftaten. Infolge dieses
       täterzentrierten Denkens, das seinen Niederschlag zunehmend in der medialen
       Berichterstattung findet, werden immer längere Strafen beziehungsweise
       präventiver Freiheitsentzug gefordert. Die Täter werden mit steigendem
       Aufwand und für viel Geld von Psychiatern, Psychologen und anderen
       Fachleuten begutachtet und therapiert – die Kosten für die Behandlung nur
       eines Sexualmörders können im Laufe der Jahre in die Millionen gehen.
       
       Dabei ist es sehr umstritten, inwieweit Bestrafung und Behandlung Einzelner
       langfristig tatsächlich zur Reduzierung krimineller Taten beitragen. Mit
       den Tätern als Projektionsflächen großer Wut und Angst lässt sich gut
       Politik machen. Die dafür aufgewandten Ressourcen wären langfristig aber
       sinnvoller in eine umfassende Aufarbeitung individueller und
       gesellschaftlicher Ursachen von schädigendem Verhalten investiert. Die
       Erfolge solcher Bemühungen sind dann freilich erst in vielen Jahren
       sichtbar, sodass die Früchte nicht die ernten könnten, die sie gesät haben.
       Es scheint daher kein großes staatliches Interesse an einer echten
       wissenschaftlichen Hinterfragung des Phänomens der Gewaltkriminalität zu
       bestehen.
       
       Solange Hintergründe und die Folgen des Umgangs mit Gewaltkriminalität im
       Unbewussten gelassen werden, lässt sich die Illusion aufrechterhalten, dass
       wir nicht, wie derzeit, strafen wollen, sondern müssen; und dass wir
       demzufolge noch für den schlimmsten Mörder alles zu tun haben – und das
       auch mit Aussicht auf Erfolg tun können –, um ihn wieder zu integrieren.
       
       ## Nicht mitleiden wollen
       
       Vielleicht ist eine Ahnung dieser Selbstverleugnung und ein daraus
       folgendes Schuldgefühl mitursächlich dafür, dass es kaum echtes Interesse
       an den Opfern gibt. Dem Menschen scheint es leichter zu fallen, harte
       Strafen für Täter zu fordern, statt Verständnis und Mitgefühl für Opfer
       aufzubringen – aus Angst, dann im wahrsten Sinne des Wortes mitleiden zu
       müssen.
       
       Es sind aber die Opfer, die den Schaden erlitten und an ihm ein Leben lang
       zu tragen haben: Sie – und nicht der Staat – wurden sexuell missbraucht,
       geschlagen, beraubt, ihre Angehörigen wurden getötet. Diese
       Ungerechtigkeiten zuungunsten weniger gälte es solidarisch zu tragen und,
       soweit überhaupt möglich, auszugleichen. Die staatliche Vergeltung in Form
       einer Übelzufügung am Täter mag manche Opfer kurzfristig befriedigen, ein
       annähernder Ausgleich des ihnen geschehenen Unrechts ist dadurch nicht
       möglich. Vielmehr sind sie sogar gezwungen, dem Staat bei der
       Geltendmachung seines Strafanspruchs zu helfen, indem sie wie eingangs
       beschrieben als Zeugen aussagen müssen – und dadurch erneut in eine passive
       Rolle gedrängt werden.
       
       Zwar wurden im Laufe der letzten Jahre einige bemerkenswerte Fortschritte
       hinsichtlich der Interessen der Opfer im Strafrecht erzielt: So wurden etwa
       Stiftungen zur Opferhilfe eingerichtet, im Strafverfahren ist es seit 2009
       möglich, dass Aussagen von Opfern unter 18 Jahren aufgenommen und dann in
       der Hauptverhandlung anstelle einer persönlichen Vernehmung wiedergegeben
       werden. Nach wie vor fehlt aber ein langfristiges und staatlich gestütztes
       Sichkümmern um sie. So sind sie für den Erfolg der Geltendmachung von
       Schadenersatzansprüchen – die gegen die Täter meist aussichtslos sind – vor
       allem auf das Opferentschädigungsgesetz angewiesen und gegebenenfalls auf
       die Unterstützung durch Krankenkassen und Opferhilfevereinigungen.
       
       Keine Rede ist aber davon, dass ihnen jahrelang ein staatliches Team von
       Experten zur Aufarbeitung des Geschehenen beiseite stünde, wie dies gerade
       bei den schwersten Straftätern der Fall ist. Das schadet nicht nur den
       unmittelbar Betroffenen, sondern der ganzen Gesellschaft. Viele Straftäter
       waren, vor allem in ihrer Kindheit, selbst Opfer von Missachtung,
       Misshandlung oder Missbrauch. Sie müssten als Opfer langfristig bei der
       Aufarbeitung ihrer Traumata unterstützt werden, um künftige Straftaten
       vermeiden zu helfen.
       
       ## Harte Konsequenzen
       
       Auch wenn bei Weitem nicht alle Opfer zu Tätern werden, so leiden viele
       doch oft ein Leben lang, brauchen kostenintensive medizinische und sonstige
       Hilfe und bleiben zum Teil arbeitsunfähig. Eine frühzeitige, intensive und
       ausdauernde Unterstützung würde ihre Heilungschancen erhöhen und am Ende
       sogar Kosten sparen. Auch würde es vielen Opfern guttun, wenn sie deutlich
       mehr über das Vorgehen gegen den Täter mitentscheiden dürften und damit ein
       Stück verloren gegangener Wirkmächtigkeit zurückgewinnen könnten.
       
       Jeder, der anderen Schlimmes antut, muss mit harten Konsequenzen rechnen,
       schon als spür- und sichtbares Zeichen allgemeiner Missbilligung. Auch der
       Versuch einer „Resozialisierung“ von Straftätern mit vernünftigem Einsatz
       knapper Ressourcen bleibt sinnvoll.
       
       Ein Strafrecht jedoch, das versucht, Unrecht fast ausschließlich
       auszugleichen und zu vermeiden, indem es vergeltend und vorbeugend auf
       einzelne Täter einwirkt, ist Ausdruck einer pharisäerhaften Gesellschaft,
       die zur Wahrung eines positiven Selbstbildes nicht nur die
       gesellschaftlichen Mitursachen und Folgen jeder individuellen Straftat,
       sondern auch die Ursachen und Folgen des Strafens selbst ausblendet.
       
       13 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Galli
       
       ## TAGS
       
   DIR sexueller Missbrauch
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   DIR Vergewaltigung
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