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       # taz.de -- Ulrich Seidls „Paradies: Hoffnung“: Smells like teen spirit
       
       > Zum Abschluss seiner „Paradies“-Trilogie zeigt Ulrich Seidl ein
       > Sommerferien-Diätlager. Er lässt zu, dass die jungen Darstellerinnen den
       > Film kapern.
       
   IMG Bild: Kapern den Film: Die jungen Hauptdarstellerinnen von „Paradies: Hoffnung“.
       
       Die Mama auf Sexurlaub im glühend heißen Mombasa, die durchgedrehte Tante
       in Wien auf radikalkatholischer Missionstour: Während die Erwachsenen den
       Sommer nutzen, um ihren Neigungen nachzugehen, muss das arme Kind, weil es
       zu schwer und zu träge ist, die Ferien im Diätlager zubringen, in einer
       tristen Mehrzweckbetonburg irgendwo in Niederösterreich. Das ist eine von
       kaum kompetent wirkendem Personal betriebenen Zurichtungsanlage mit
       Kinderdrill, Work-out-Einheiten und Ernährungsumstellung.
       
       Aber die Libido schlägt auch in
       [1][//www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.php?film_i
       d=20137369:„Paradies: Hoffnung“] durch – und verpasst jener Trilogie, mit
       der Ulrich Seidl seit Mai 2012 die Wettbewerbe der drei großen europäischen
       Filmfestivals (Cannes, Venedig, Berlin) in Folge unsicher gemacht hat, ein
       stimmiges Finale.
       
       Melanie, 13, verliebt sich nämlich in den Arzt des Camps (Joseph Lorenz),
       der nicht nur gute vier Jahrzehnte älter ist als sie, sondern sich auch
       genuin unseriös verhält. Er lächelt sie mehrmals zu lange und zu vieldeutig
       an, als er begreift, wie sehr sie sich für ihn interessiert. Seine
       infantilen Rollenspiele im Untersuchungszimmer helfen auch nicht, die
       Fronten zwischen Teenager und Verantwortungsträger vernünftig zu klären.
       
       ## Der Autokrat lässt spielen
       
       So wird das Problem kurzerhand ins Mädchenzimmer verschoben, wo man sich in
       ausführlichen Dialogen auf das Minenfeld des Themas Sex begibt. An dieser
       Stelle werden Seidl-Skeptiker nun möglicherweise befürchten, dass hier ein
       berüchtigter Regieautokrat aus Wien arglose Halbwüchsige mit seinen eigenen
       Zwangsvorstellungen zu adoleszenter Sexualität oder gar Pädophilie
       behelligt – au contraire: Ulrich Seidl überlässt klugerweise den Mädchen
       das Feld und nutzt lieber ihre nicht zu unterdrückende Energie.
       
       Tatsächlich wird man angesichts der entscheidenden Szenen den Eindruck
       nicht los, Seidls jugendliche Darstellerinnen – und hier vor allem
       Protagonistin Melanie Lenz und Partnerin Verena Lehbauer – hätten seinen
       Film gekapert, um ihn mit Teeniejargon und Selbstdarstellungslust zu
       füllen. Das Übergewicht, das diese Piratinnen auf die Waage bringen, kommt
       ihnen auch als Kinoheldinnen zu.
       
       „Paradies: Hoffnung“ besitzt trotz der präsenten Seidl-Kennzeichen
       (symmetrische Bildkonstruktionen, lange Einstellungen, Improvisation) eine
       ätherische Qualität, die man eher dem französischen Kino unterstellen würde
       als der etablierten Höllenmalerei Ulrich Seidls. Aber auch sonst überrascht
       der Regisseur mit unüblichen Maßnahmen.
       
       ## Animalisch, kreatürlich, märchenhaft
       
       Zweimal ziehen sich Melanie und ihr Arzt in den Wald zurück, einmal führt
       sie ihn hinein, einmal er sie. In einem Seitensprung ins Fantastische, ins
       Irreale kulminiert dieser Film: Auf einer Waldlichtung kommt es zwischen
       dem Mädchen und seinem Angebeteten zu einer durchaus verstörenden Szene,
       die sowohl aufs Märchenhafte als auch aufs Animalische, Kreatürliche zielt.
       
       Das Paradies bleibt allerdings unauffindbar, nur ein utopischer
       Fluchtpunkt, der Seidls Dreiteiler der erotischen Abwege seiner Heldinnen
       in absentia prägt. Nach der Desillusionierung der Liebenden und dem Ende
       des Glaubens lässt der Filmemacher seine letzte Kategorie immerhin intakt.
       Die Hoffnung stirbt eben, wie man sagt, zuletzt.
       
       9 Feb 2013
       
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