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       # taz.de -- Alternativer Karneval am Ende: Grüne feiern mit dem Feind
       
       > Die Aachener Strunxsitzung war der Gegenentwurf zum Herrenwitz-Karneval.
       > Jetzt ist Schluss. Heute marschiert Özdemir mit dem Volk – und verkauft
       > das als Sieg.
       
   IMG Bild: Tätäää! Wie ein gestandener Karnevalist: Cem Özdemir 2013 in Aachen bei der Verleihung des „Ordens wider den tierischen Ernst“.
       
       AACHEN/KÖLN taz | Doch, bei der Schlussnummer waren feuchte Schimmer in
       manchem Auge zu sehen und zusammengekniffene Lippen, auf der Bühne wie auch
       im Publikum. Freitagabend kurz vor Mitternacht: Nach 21 Jahren geht der
       erste der letzten sieben Termine der Aachener Strunxsitzung zu Ende, dem
       grün-alternativen, parodistischen Gegenentwurf zum Traditionskarneval.
       
       Die Aachener Strunxler machen Schluss. Weil sie es sich nicht mehr antun
       wollen, monatelang vier Stunden Programm auf die Beine zu stellen neben
       Beruf und Familie. Weil sie auch älter geworden sind. Sie sagen: „Wir hören
       auf, solange es den Leuten noch richtig leid tut.“ Ein Stück Szenekultur
       endet. Der letzte Refrain im brodelnden Saal: „Wir waren jung, frech,
       alternativ – gegen den Karneval in seinem Mief.“ Dazu die Aufforderung:
       „Nehmt uns mit in euren Herzen, mit all unsren Scherzen.“
       
       Wie anders der Abend eine Woche zuvor, der war so richtig zum Fremdschämen.
       Die selbst ernannten „Lackschuh-Karnevalisten“ vom schwer konservativen
       Aachener Karnevalsverein AKV feierten den ersten grünen und
       türkischstämmig-muslimischen Ordensritter wider den tierischen Ernst. Wow.
       Nur, dann sprachen sie alle den Namen des Geehrten treudeutsch falsch aus,
       ob Sitzungspräsident Werner Pfeil oder der heimische EU-Parlamentspräsident
       Martin Schulz (SPD) als Laudator: Schämm hieß der Geehrte, als ginge es um
       eine Kaschämm, also eine Kneipe. Und hinten Ötzdemir, wie Ötzi, statt
       Ösdemir.
       
       Tusch, tataaa. So geht hierzulande Multikulti. Und ständig drehten sich die
       Lobpreisungen darum, dass einer anders sein kann und trotzdem nett. Der
       grüne Parteichef Cem Özdemir hat den 63. Orden bekommen. Das Saalpublikum,
       das den bornierten Printen-Adel repräsentiert, hat den Mann mühsam lächelnd
       bestaunt wie vor hundert Jahren einen Freak im Zirkus. Viele von ihnen
       dürften noch nie im Leben Kontakt zu einem leibhaftigen Grünen gehabt
       haben.
       
       ## Grüne Chamäleons
       
       Und Cem Özdemir bedankte sich mit einer Rede von zotiger Peinlichkeit. Bei
       der Beschneidungsdebatte zuletzt habe er sich fast schon als Krimineller
       gefühlt. Tusch. „Oder um es fußballerisch zu sagen: Mit hängender Spitze
       kann ich nicht mehr spielen.“ Tuschtuschtusch. Der Saal tobt. Grüne können
       sich hervorragend anpassen.
       
       Das gilt auch für die grünen Aachener Lokalpolitiker. Seit ihrer Existenz
       haben sie für den Herrenbund AKV nur Hohn, Spott und Ekel übrig. 2011 noch
       demonstrierte Bürgermeisterin Hilde Scheidt vor dem Sitzungssaal gegen die
       Ritterwürde für Karl-Theodor zu Guttenberg. Jetzt war sie eingeladen und
       fühlte sich sehr wohl. Andere grüne Ratsleute begleiteten sie. „Wo sonst
       nur auf Kosten der Grünen gelacht wurde, wollen sie jetzt selbst
       mitlachen“, attestierte die Lokalpresse. In Aachen haben die Grünen mit der
       CDU die Ratsmehrheit, da kommt es auf den tiefschwarzen AKV aus dem
       männerbündlerischen Vorgesterntum auch nicht mehr an. Total ejal.
       
       „Total ejal“ ist auch das Motto der Strunxsitzung. Ensemble wie Publikum
       kommen aus dem 68er und 78er Milieu. Strunx wird von Aachener Kabarettisten
       gemacht, die im Brotberuf Architekt sind, Kantinenwirt im Stadttheater,
       Schulleiterin und ohnehin viele „Beschäftigte aus dem Rotstiftmilieu“, also
       LehrerInnen. Grüne Parteigänger hatten damals den Gegenkarneval ausgeheckt.
       Bis heute managen sie den Kartenverkauf, organisieren, basteln an der Show
       mit. Ein Unikum ist Spitzenpolitiker Reiner Priggen, seit heute 60 Jahre
       alt, der Aachener Fraktionschef der Landtagsgrünen, der Jahr um Jahr den
       Bühnenknecht gibt: Er räumt mit stoischer Ruhe die Requisiten auf und ab
       und sagt: „Strunx ist für mich wie Urlaub.“
       
       ## Kondome statt Kamellen
       
       1992, beim ersten Mal, war als Alternativ-Prinz „Seine Schwulität Jonathan
       I.“ mit Fistelstimme der Rathaustoilette entstiegen und hatte Kondome statt
       Kamellen geworfen. Welch Skandal in der Bischofsstadt: „Überkandideltes
       Coming-out“, schimpfte die Aachener Volkszeitung, ein empörter Leser
       verortete die „spießige Obszönität des Normalen“. Schnell wurde Strunx zur
       einzig bei Sinnen überlebbaren Karnevalsveranstaltung der Stadt.
       
       In Köln, dem Epizentrum närrischen Brauchtums, geht Stunk, der große
       Bruder, ins 30. Jahr, wie immer vor 50.000 Zuschauern an knapp 50 Abenden,
       alles in 15 Minuten ausverkauft. 22 Leute, Schauspieler wie Musiker,
       arbeiten ein halbes Jahr für ihr Projekt. „Das Thema Älterwerden“, sagt der
       53-jährige Stunker Winni Rau, „ist bei uns seit etwa zehn Jahren in der
       Diskussion“. Die meisten sind Mitte 50, zwei der Kabarettisten schon 60
       plus. „Konsens war immer: Wir machen ein Programm für unsere Generation,
       und es gibt keinen Druck, jüngere Leute einzubauen.“ Also mache man weiter,
       „solange es gesundheitlich geht“. Indes: Dieses Jahr hatte einer vom
       Ensemble mitten in der Session eine Hüftoperation.
       
       Vieles hat sich in Köln angeglichen. Anfangs galt Stunk als
       Anarchoveranstaltung. „Heute“, sagt Rau, „staunen wir immer neu, welche
       Ideen bei der Prinzenproklamation von uns geklaut sind.“ Und die ergrauten
       Alternativkarnevalisten lästern selbstironisch „über die jungen Leute vom
       Festkomitee“. Das Programm 2013 ist, wie immer, schön unverschämt, witzig,
       politisch, gemein. Der Kölner Erzbischof Joachim Meisner hat ausnahmsweise
       mal keine Einstweilige Verfügung angedroht, leider.
       
       ## „Mehr erotische Nutzfläche“
       
       Vor zehn Jahren gab es in Köln eine Nummer, in der die damals Fourty
       Somethings die Pflege ihrer Eltern thematisierten. Heute geht die erste
       Moderation ums eigene Älterwerden, dann tritt einer als
       Slapstik-Pflegeroboter auf – mit „Schmusemodus“. Beim Aachener Strunx
       treffen sich vier Betagte zum gemächlichen „Speed Dating Ü60“: Eine
       lebenslustige Dauerwellendame begeistert sich über die körperlichen Vorzüge
       im Seniorenalter: „Korpulente Männer haben mehr erotische Nutzfläche.“
       
       Auch der Orden wider den tierischen Ernst allerdings hat sich verändert,
       nicht ganz freiwillig. In 63 Jahren wurden fast ausnahmslos
       Wirtschaftsführer gekürt und gesinnungsnahe Politiker wie zuletzt Stoiber,
       Merz, Rüttgers oder Westerwelle. 59 Geehrte seit 1950 waren Männer, gerade
       mal vier kamen aus der SPD.
       
       Jetzt ein Grüner im Narrenkäfig, das war, zudem im Wahljahr, ungefähr so
       sensationell wie eine lesbische Päpstin. Indes ist aus dem WDR, der die
       Veranstaltung mit einer Zweistundenkonserve für das Erste finanziert, zu
       hören, dass es bei Özdemir viel Druck und Überzeugungsarbeit beim Aachener
       Karnevalsverein brauchte.
       
       Der Orden für Özdemir war auch bei den Grünen und ihrem Umfeld umstritten.
       NRW-Fraktionschef Priggen hatte die Sitzungseinladung zurückgeschickt. „Die
       einen fanden es tatsächlich gut“, sagt Anita Groß, 64 Jahre alt, früher
       Parteisprecherin und Strunxlerin der ersten Stunde, „andere waren über den
       Auftritt entsetzt. Ich wäre da nie hingegangen.“
       
       ## Fremdschämen für Özdemir
       
       Die Zote mit der „hängenden Spitze“ fand sie „plump und grauenvoll“.
       Kopfschütteln: „Dass dieser tolle Mensch das nötig hat.“ Moderator Manni
       Hammers meinte: „Ketzerisch gesagt braucht es uns Strunxler ja jetzt
       wirklich nicht mehr, seit Rot-Grün beim AKV angekommen ist.“ Und fügte
       hinzu: „Wir von Strunx sind wohl auch etwas bürgerlicher geworden.“
       
       Und Cem Özdemir? Auf die Frage, ob die Ritterwürde der Höhepunkt auf dem
       grünen Marsch durch die Institutionen sei, meinte er: „Ja, natürlich, erst
       Politik und Wirtschaft, und jetzt fällt die letzte Bastion, der Karneval.“
       Wie der deplatzierte Schwabe inmitten der Garden mit viel
       Tschingderassabumm durch die Aachener Innenstadt geleitet wurde, wirkte das
       eher wie der Marsch in der Institution.
       
       3 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Müllender
       
       ## TAGS
       
   DIR Karneval
   DIR Aachen
   DIR Grüne
       
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