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       # taz.de -- Debatte Langzeitarbeitslosigkeit: Ein Plan für echte Jobs
       
       > Lebenslang Hartz IV? Das droht Langzeitarbeitslosen, wenn nicht endlich
       > anders gefördert wird. Und zwar ohne große Prüfung mit Amstsarzt oder
       > andere Absurditäten.
       
   IMG Bild: Arbeitslos. Und nun?
       
       „Ein großer Plan für Billigjobs“ lautet der Titel von Helga Spindlers
       [1][verschwörungstheoretisch daherkommender Bewertung] der neuen Vorschläge
       für einen „sozialen Arbeitsmarkt“ von SPD und Grünen, die von mir
       mitentwickelt wurden. Aber wie so oft im Leben – so einfach ist es nicht.
       
       Man muss doch zur Kenntnis nehmen, dass Hunderttausende seit Jahren ohne
       eine realistische Perspektive auf irgendeine Beschäftigung im
       Hartz-IV-Bezug eingemauert sind. Gleichzeitig erleben wir seit 2011 einen
       Sparkurs bei den zur Verfügung stehenden Mitteln für die Eingliederung
       dieser Menschen in den Arbeitsmarkt (minus 50 Prozent!), wie es ihn in der
       Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hat.
       
       Das ist an sich schon hochproblematisch, aber gleichzeitig hat die
       Bundesregierung gegen den Rat aller Experten die Förderbedingungen für die
       öffentlich geförderte Beschäftigung dermaßen restriktiv gestaltet
       („zusätzlich“, „im öffentlichen Interesse“ und seit neuestem auch
       „wettbewerbsneutral“), dass man nur noch – auf sechs Monate befristete –
       vom ersten Arbeitsmarkt Lichtjahre entfernte Maßnahmen in irgendwelchen
       Kunstwelten durchführen darf. Von den teilweise menschenverachtenden
       „Aktivierungsmaßnahmen“ (etwa die x-te Schulung „Wie bewerbe ich mich in
       Zeiten des Internets?“) ganz zu schweigen.
       
       Wir müssen aus diesem Gefängnis der Arbeitsmarktpolitik ausbrechen und
       zugleich akzeptieren, dass die Menschen mit mehreren
       „Vermittlungshemmnissen“ und langjährigem Hartz-IV-Bezug nun mal mit einem
       Arbeitsmarkt konfrontiert sind, der sie niemals (mehr) einstellen wird. Was
       kann man trotzdem tun?
       
       ## Drei Bedingungen
       
       Eine öffentlich geförderte Beschäftigung, die vom Kopf auf die Füße
       gestellt wird, muss nach Dafürhalten aller Praktiker drei Bedingungen
       erfüllen:
       
       1. Sie muss an den individuellen Bedarfen der Betroffenen ausgerichtet
       sein, konkret: Keine starre Befristung der Förderung, denn der individuelle
       Förderbedarf variiert erheblich.
       
       2. Es muss sich um Tätigkeiten handeln, die so weit wie möglich am und im
       ersten Arbeitsmarkt stattfinden, konkret: Wegfall der Zusätzlichkeit und
       „Wettbewerbsneutralität“. Die allermeisten Unternehmen würden die Menschen,
       über die wir hier reden, auch bei einer hundertprozentigen Förderung nicht
       beschäftigen. Also brauchen wir Sozialunternehmen, die im und für den
       ersten Arbeitsmarkt arbeiten.
       
       3. Die Förderung muss deshalb an der „individuellen Minderleistung“ der
       Personen festgemacht werden, weil das nun mal leider nach dem EU-Recht die
       einzige Möglichkeit ist, eine Förderung – die einen Subventionstatbestand
       darstellt – bewilligt zu bekommen.
       
       ## Die Arbeitgeber wollen nicht
       
       Ich plädiere ausdrücklich dafür, allen Unternehmen die grundsätzliche
       Möglichkeit zu eröffnen, bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen die
       Lohnkostenförderung zu bekommen – wohl wissend, dass die meisten
       Unternehmen niemals Gebrauch davon machen werden, wenn denn die Förderung
       auf arbeitslose Menschen begrenzt wird, die mehrere „Vermittlungshemmnisse“
       aufweisen.
       
       Das ist zumindest meine praktische Erfahrung, wenn man die Arbeitgeber
       einmal mit den Menschen konfrontiert, um die es hier geht. Aber wenn alle
       Unternehmen die Möglichkeit haben, dann können sie auch nicht mehr
       argumentieren, die Förderung dieser Arbeitslosen nähme ihnen Beschäftigung
       weg. Das ist der entscheidende Punkt: Wir könnten uns endlich auf eine
       sinnvolle Förderung konzentrieren.
       
       Wenn diese Förderung dann in professionellen Sozialunternehmen beginnt, die
       mit der normalen Wirtschaft zusammenarbeiten und Aufträge für diese machen
       dürfen, dann können in diesen Strukturen auch eine notwendige
       sozialpädagogische Begleitung und sonstige Hilfestellungen sichergestellt
       werden. Übrigens ist das keine Modelltheorie – in der Schweiz und
       Österreich gibt es solche Jobs mit guten Erfahrungen (einschließlich der
       teilweisen Übernahme der so Beschäftigten) und auch hier in Deutschland
       gibt es sehr erfolgreiche „Integrationsunternehmen“, die mit behinderten
       Menschen am Markt arbeiten.
       
       Um es deutlich zu sagen: Der Vorschlag einer öffentlich geförderten
       Beschäftigung über eine Lohnkostensubventionierung soll keineswegs für alle
       oder die Mehrheit der Arbeitslosen Anwendung finden, sondern für die im
       heutigen System „hoffnungslosen“ Fälle, die aber auch ein Recht auf Arbeit
       haben und von den viele unbedingt arbeiten wollen.
       
       ## Freiwilligkeit ist vorgesehen
       
       Zur Größenordnung: Ich schlage vor, diese Förderung ohne große Prüfung mit
       Amtsarzt oder anderen Absurditäten, wie Helga Spindler verbreitet, auf die
       Gruppe der Langzeitarbeitslosen zu beschränken, die mehr als fünf (!)
       „Vermittlungshemmnisse“ haben. Das sind derzeit über 400.000 Menschen.
       
       Selbstverständlich ist in allen fortschrittlichen Modellen das Prinzip der
       Freiwilligkeit geplant – es gibt nämlich genügend Langzeitarbeitslose, die
       auf eine solche Chance warten. Auch eine Vergütung nach Mindestlohn ist
       vorgesehen – nur hat Frau Spindler anscheinend vergessen, dass wir noch
       keinen solchen flächendeckend haben.
       
       Ein letztes Argument, warum wir dafür professionelle Sozialunternehmen
       brauchen: Wenn die dort „echte“ Arbeit machen (= Qualifizierung durch echte
       Arbeit), dann kann man auch eine formale Nachqualifikation im Sinne des
       Nachholens eines Berufsabschlusses in diesen Betrieben organisieren. Denn
       ohne Berufsabschluss gibt es heute keine Integration mehr in solide
       Arbeitsbedingungen. Das geht, wie Erfahrungen beispielsweise in Frankfurt
       zeigen, auch mit über 50-jährigen. Aber diese Förderung braucht Zeit.
       
       Die Alternative – das möchte man Helga Spindler zurufen – sind doch keine
       gut dotierten Jobs im öffentlichen Dienst, sondern eine wirkliche und
       dauerhafte Entrechtung der Betroffenen, die – bei vielen gegen ihren Willen
       – auf lebenslangen Transferleistungsbezug verwiesen und in diesen
       einzementiert werden.
       
       1 Feb 2013
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Sell
       
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