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       # taz.de -- Kolumne Schlagloch: Kein Anruf aus Timbuktu
       
       > Timbuktu gehört niemandem: Weder der malischen Zentralmacht noch den
       > Fanatikern, und auch nicht den Tuareg, die durch die Straßen streifen.
       
   IMG Bild: Die Malier selbst forderten eine militärische Intervention. Alle Malier?
       
       Irgendwann hörten die Anrufe auf. Irgendwann war auf der Mailbox die
       Vorwahl 0 02 23 nicht mehr zu lesen, das Rauschen anstelle einer Mitteilung
       nicht mehr zu hören. Keine Kunde von Suleiman, der gelegentlich spät
       anrief, weil er wartete, dass die elsässische Inhaberin der Pension, wo er
       als Student in den Ferien arbeitete, sich schlafen legte.
       
       Und auch keine Nachricht von Mohammed, der meist am Vormittag versucht
       hatte, mich zu einer Spende für seine Familienbibliothek zu überzeugen.
       
       Selbst die gelegentlichen E-Mails blieben von nun an aus. Irgendwann im
       letzten Jahr versuchte mich niemand mehr zu erreichen. Ich war von
       Timbuktu, wo ich vor zwei Jahren fast einen Monat verbracht hatte,
       abgeschnitten.
       
       Nicht nur ich. Keiner der Artikel über die Entwicklungen in Mali stammte
       unmittelbar aus Timbuktu. Ein Journalist berichtete aus Casablanca, eine
       Reporterin aus Bamako, die Umtriebigen reisten in die Auffanglager nach
       Mauretanien.
       
       Es gediehen Gerüchte und Behauptungen, die für einen Ortskundigen nicht
       glaubhaft waren: Die Hauptstadt Bamako drohe von den Aufständischen
       eingenommen zu werden. Wirklich? Die Islamisten hätten zwei Drittel des
       Landes in ihrer Kontrolle. Wie das? Die Malier selbst forderten eine
       militärische Intervention. Alle Malier?
       
       ## Ein jüdischer Zufluchtsort
       
       Im lauten Chor der Fragwürdigkeiten ging unter, dass dieses gigantische
       Wüstengebiet nicht im landläufigen Sinn erobert werden kann, dass die
       Zentralgewalt in den Händen von Putschisten liegt, die nicht einmal ihre
       angestammten Aufgaben als Soldaten erfüllen können und dass niemand die
       Meinung der Tuareg eingeholt hat, die ein antagonistisches Verhältnis zum
       malischen Nationalstaat haben.
       
       Ein Polizist in Timbuktu, der wie alle anderen aus dem Süden dorthin
       entsandt worden war, beklagte sich bei meinem letzten Besuch, wie selten er
       eingreifen könne, weil die Tuareg alle Konflikte unter sich ausmachten.
       Zwar steht in Timbuktu ein Denkmal, an dem vor Jahren nach dem Ende eines
       Bürgerkrieges demonstrativ die Gewehre der kämpfenden Parteien verbrannt
       wurden, aber an den strukturellen Widersprüchen hat sich zu wenig
       verbessert.
       
       Timbuktu erlebt dieser Tage einen weiteren Angriff, auf Eroberung folgt
       wieder einmal Rückeroberung. Nach 1492 war Timbuktu Zufluchtsort für aus
       Europa vertriebene Muslime und Juden. Noch heute werden zwei Dörfer in der
       Nähe der Stadt von den einheimischen als „villages juifs“ bezeichnet,
       obwohl keine „reinen“ Juden mehr dort leben.
       
       Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts gab es in der Stadt eine
       Synagoge. Und manch ein Nachname, wie etwa jener des führenden
       Intellektuellen der Stadt, Ishmail H. Kuti, deutet darauf hin, dass seine
       Vorfahren Westgoten waren, was er für seine Familie historisch belegen
       kann.
       
       ## Gaddafis monströses Hotel
       
       Timbuktu war lange eine Insel des Friedens für Sufis und Gelehrte, weswegen
       beide Gruppen bemerkenswerte Spuren in der Stadt hinterlassen haben: Gräber
       und Bibliotheken. Aber Timbuktu wurde immer wieder angegriffen, mal von
       marokkanischen Söldnern, mal von fanatisch gläubigen Kriegern aus den
       unermesslichen Tiefen des Umlands. Als kosmopolitisches Zentrum der
       Gelehrten ist Timbuktu immer wieder erniedrigt worden. Zuletzt war es
       Kampfplatz für panafrikanische Interessen.
       
       Die Südafrikaner hatten einen spektakulären Bau inmitten der Stadt
       errichtet, der die Hauptbibliothek behausen und vernünftige
       Arbeitsmöglichkeiten für kommende Forscher schaffen sollte (etwas
       überdimensioniert, denn das Gebäude verbraucht die Hälfte des städtischen
       Energiebedarfs), Gaddafi hatte ein monströses Hotel am Rande der Stadt
       erbaut, das meist leer stand und von den Einheimischen mit Verachtung
       gestraft wurde. Araber gingen ihren unüberschaubaren Geschäften nach, in
       den Vororten erhoben sich prachtvolle Villen, die mit Drogengeldern erbaut
       worden waren, wie gemunkelt wurde.
       
       Im Sommer tauchten US-Offiziere auf, um die einheimische Armee zu schulen,
       im Kampf gegen AQIM (al-Qaida im Maghreb), während die Ältesten der Stadt
       diesen Sammelbegriff anzweifelten und lieber konkret von Gangstern,
       Entführern, Drogenhändlern und Söldnern redeten, die alle ihr Unwesen
       trieben.
       
       Timbuktu gehört niemandem, weder der malischen Zentralmacht noch den
       Fanatikern, und auch nicht den Tuareg, die regelmäßig durch die Straßen
       streifen, wie die gelegentlichen Wandersanddünen, um Handel zu treiben,
       bevor sie sich wieder zurückziehen. Die sesshaften Tuareg, die der
       europäische Besucher in Timbuktu kennenlernt, sind die Ausnahme.
       
       Die Regel sind jene Familien und Klans, die mit ihren einstigen Sklaven,
       den Bella, weiterhin in der Wüste ein Auskommen finden und für einen
       Fremden nur bei den rauschenden Hochzeiten sichtbar werden, an denen ein
       jeder erwachsene Tuareg mit Gewehr und Gusto in die Luft schießt.
       
       ## Und Saudi-Arabien?
       
       Wer in letzter Zeit die Notwendigkeit militärischen Eingreifens propagiert,
       scheint zu vergessen, dass die Bilanz der französischen Einmischung in
       Afrika bislang katastrophal ausgefallen ist (Unterstützung von Putschen,
       Duldung von Genozid, gierige Rohstoffinteressen). Wer über die überraschend
       schnellen Erfolge der französischen Truppen jubelt, scheint die Frage zu
       übersehen, wie es nun weitergehen soll. Schon erreichen uns die ersten
       Nachrichten von Racheakten und Massakern seitens der malischen Armee.
       
       In der selektiven Wahrnehmung einer eindimensionalen Humanität bieten
       Bomben einfache Lösungen für Probleme, die grundsätzlichere Veränderungen
       erfordern.
       
       Unsere bedingungslose Unterstützung Saudi-Arabiens (der Hauptexporteur
       eines Fanatismus, der religiöse Traditionen vor Ort missachtet), die
       Subventionen für landwirtschaftliche Exporte aus der EU und für Baumwolle
       aus den USA, die militärische Destabilisierung der Region, die falsche
       Antidrogenpolitik und das Tolerieren von korrupten, autoritären Regimes zur
       Absicherung unserer Interessen – all das müsste unterbunden werden, wenn
       einem das Schicksal der Menschen im Norden Malis, der Gräber und
       Bibliotheken wirklich am Herzen liegt.
       
       30 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilija Trojanow
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