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       # taz.de -- Serie Landkreis XXL: Der Balkan nebenan
       
       > Die Größe des neuen Kreises Mecklenburgische Seenplatte erschwert die
       > Kommunalpolitik. In nur einem Jahr schmiss jeder elfte Abgeordnete im
       > Kreistag hin.
       
   IMG Bild: Ferne, fremde Landschaft: Die Weiten der Mecklenburgischen Seenplatte
       
       NEUSTRELITZ/DEMMIN taz | Der Erste machte sich aus dem Staub, da war der
       Kreistag noch gar nicht zusammengetreten. Der Zweite schaute einmal hinein,
       bevor er hinschmiss. Der Nächste nahm im Februar 2012 Abschied. Im Laufe
       des Sommers schlugen sich weitere Kreistagsmitglieder in die Büsche.
       
       Eine neue Arbeit, sagte der eine. Gesundheitliche Probleme hatte der
       andere. Dem Dritten wuchs das alles über den Kopf. Der Nächste hatte keine
       Lust mehr. Nach einem Jahr zählte der Kreistagspräsident sieben Abgänge. 7
       von 77 Mitgliedern des neuen Kreistages waren abgetaucht, als wäre der
       Kreistag nicht das Herz der kommunalen Selbstverwaltung, sondern
       Frondienst.
       
       Im Kornhus in Neustrelitz, das viel mit Backwaren, aber nichts mit
       Branntwein zu tun hat, gibt es hinten links einen gemütlichen Raum mit
       lederbezogenen Clubsesseln, Kandelabern und einem mächtigem Bücherregal.
       Dieser Raum hat etwas Aristokratisches. Er ist Andreas Butzkis
       Hinterzimmer, hier verabredet er sich. Butzki ist Aussteiger Nummer zwei.
       
       Am Revers glänzt das Abzeichen von Neustrelitz – ein stilisierter Grundriss
       der Residenzstadt mit den acht Straßen, die strahlenförmig in alle
       Richtungen führen. Fast wirkt es wie ein geheimes Emblem. Ein SPD-Abzeichen
       trägt er nicht. Dabei hat der damals 30-jährige Lehrer 1990 die
       Sozialdemokratische Partei in der Stadt mit gegründet.
       
       ## Multiamtsträger Butzki
       
       Butzki stieg auf, wurde Schuldirektor, Parteiarbeiter, Kommunalpolitiker –
       Stadtvertretung, Fraktionschef, Stadtpräsident, Aufsichtsrat der
       Wohnungsgesellschaft, Mitglied im Krankenhausbeirat, dazu diverse
       gemeinnützige Vereine, 2009 kam dann der Sitz im damaligen Kreistag dazu.
       Seit 1990 haben sich die Ämter und Mandate angehäuft wie bei anderen die
       Krawatten. Mangelnden Einsatz kann man Butzki nicht vorwerfen.
       
       Im Gegenteil, es waren schließlich zu viele Posten, die Butzki hinschmeißen
       ließen. Er hat für das Treffen im Kornhus den Neujahrsempfang von Erwin
       Sellering abgesagt, den der Landesvater zur selben Stunde in Greifswald
       zelebriert. Die Schlagermusik, die das Ambiente untergräbt, hat Butzki
       abstellen lassen.
       
       Er überlegt kurz. Als er Schulleiter war, ließen sich Arbeitszeit und
       Politik noch unter einen Hut bringen, beginnt Butzki, auch das
       Kreistagsmandat im alten Landkreis war kein Problem. 2011 ließ er sich dann
       für den neuen, größeren Kreistag aufstellen, außerdem kandidierte er für
       den Landtag in Schwerin.
       
       Die Sellering-SPD war im Aufwind, Butzki auch. Er räumte in Neustrelitz für
       die SPD ab, sicherte sich das Landtagsmandat und erklärte noch am Abend,
       dass er Stadtpräsident von Neustrelitz bleiben wolle.
       
       ## Versenkt im Großkreis
       
       Und das Kreistagsmandat? „Wenn man ein Amt anstrebt, will man das halbwegs
       vernünftig machen“, versucht er seinen schnellen Abgang zu erklären. „Dann
       kam die Fahrerei dazu.“ Halbwegs vernünftig war die Arbeit im Kreistag
       nicht zu machen. Im Oktober 2011 gibt er sein Mandat nach nur einer Sitzung
       zurück. Es scheint, als habe er seinen Sitz nur angenommen, um nicht als
       unstet zu gelten. Ja, er wollte nicht sofort hinschmeißen, räumt er ein.
       Das wäre nicht der richtige Weg gewesen. Neben seiner Landtagsarbeit will
       er sich fortan auf die Neustrelitzer Stadtvertretung konzentrieren.
       
       Weil dort keine Reisezeiten anfallen? „Ja, auch.“ Butzki wiegt den Kopf.
       Doch das war es eigentlich nicht. Die Stadt liege ihm einfach näher. „Ich
       begleite den Prozess seit 1990“, sagt er etwas umständlich zu seiner
       politischen Arbeit. Die Stadt ist seine Heimat, auch seine politische.
       Sofort blüht er auf. Die Stadtwerke seien wirklich gut. Alle Kindergärten
       sind saniert, die Schulen, fast alle Sporthallen. Die Innenstadt ist
       restauriert, die Bahnverbindung nach Berlin sei bald ausgebaut, und der
       Knüller: In der Stadt hat das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt eine
       Dependance. Von Neustrelitz zu den Sternen.
       
       Butzki singt ein Lied auf die Residenzstadt. Mecklenburg-Strelitz war bis
       1919 Herzogtum und dann bis 1934 ein Freistaat im Deutschen Reich mit Sitz
       und Stimme im Reichsrat, dem heutigen Bundesrat vergleichbar. Das ist das
       Erbe – und die Kränkung. Ein Freistaat, versenkt im Großkreis, mit einem
       halben Dutzend Sitzen im Kreistag als Ersatz. Wirklich angemessen ist das
       nicht.
       
       Beim Spaziergang durch die Stadt läuft Butzki über die Elisabethstraße,
       verkehrsberuhigt, edles Pflaster, hübsche Läden, Fußgänger grüßen. So mögen
       einst Staatsminister geschritten sein. Dass heute in ihrer Stadt noch nicht
       einmal ein Landrat residert, würde sie beleidigen.
       
       ## Neustrelitz ist riesig
       
       Am Markt hält Butzki inne, hier laufen die acht Straßen zusammen. Butzki
       breitet die Arme aus, als wollte er das alles segnen. Er wüsste keine
       deutsche Stadt mit diesem Grundriss. Neustrelitz ist einmalig. Hier
       Stadtpräsident zu sein, ist eine Lust.
       
       Wer könnte so einen Gesang für den Landkreis anstimmen? Der neue Kreis
       weckt kein Heimatgefühl. So richtig warm wird keiner. „Siebenundsiebzig
       Leute! Eh man die alle kennen gelernt hat, auch in der eigenen Fraktion!“
       Rainer Tietböhl mag am Telefon einsilbig klingen, in seinem Büro macht er
       einen geselligen Eindruck. Die Sekretärin müsste jetzt nur noch Bier
       bringen, stattdessen kredenzt sie Kräutertee.
       
       Ein funktionierender Kreistag scheint in Tietböhls Ausführungen wie ein
       Stammtisch, wo jeder jedem die Hand drückt und schneller das Du anbietet,
       als eine Kuh gemolken ist. Der Landwirt aus Demmin ist die Nummer vier der
       Aussteiger.
       
       Tietböhl bedauert, dass der neue Kreistag geradezu uferlos geworden ist –
       Tagesordnungspunkte, Vorlagen, Sitzungsdauer, Anfahrtswege und die Schar
       der Mitglieder. Wenn Tietböhl den alten Kreistag von Demmin schildert,
       wirkt es, als würde eine versunkene Welt aufleben. Zehn Minuten Fußweg zum
       Kreistag, die Sitzungen überschaubar und natürlich kannten die Abgeordneten
       einander wie Nachbarn. Zwar sei es auch nicht immer einfach gewesen, alles
       unter einen Hut zu bekommen – Tietböhl ist immerhin Bauernpräsident von
       Mecklenburg-Vorpommern –, aber es ließ sich arrangieren. Wo ein Wille ist,
       ist ein Weg.
       
       Doch der Wille nimmt mit den Kilometern merklich ab. Tietböhl erklärt es
       so: „Für mich ist wichtig, dass man einen Bezug hat zum Territorium. Dass
       man weiß, worum es geht.“ Man müsse die Straße eben kennen, über deren
       Sanierung der Kreistag abstimmt. „Im alten Kreistag kannte mich jeder, da
       hat es auch vernünftige Diskussionen gegeben“, fügt er an und seufzt: „Man
       konnte alles abgrasen.“
       
       Ein Landrat musste vor hundert Jahren mit seinem Gespann seinen Kreis
       abfahren, die Amtsgeschäfte erledigen und abends wieder daheim am Esstisch
       sitzen können. Abgrasen eben – die Wiese in jeder Ecke rupfen, jeden
       Maulwurfshügel kennen und jeden Kuhfladen. Heute ist es eher ein Stochern.
       „Ich habe keinen Bezug mehr zur westlichen Ecke hinter Röbel.“
       
       Tietböhl deutet mit dem Arm in irgendeine eine ferne Landschaft, als ob’s
       der Balkan wäre. „Da kann man im Kreistag wenig sinnvolle Diskussionen
       führen.“ Und es endet ja nicht beim Kreistagsmandat. Es gehe um Sitze im
       Planungsverband, in Aufsichtsräten, in Ausschüssen. „Wenn ich alle
       Sitzungen besucht hätte, wäre ich täglich drei Stunden unterwegs“, rechnet
       Tietböhl zusammen.
       
       ## Nur noch zwei Bauern
       
       Tietböhl hat im April 2012 hingeschmissen. „Dass das so ein Zeitaufwand ist
       …“ Es klingt wie eine Kapitulation. „Dazu muss ich so einen Stapel
       Unterlagen lesen.“ Er beschreibt mit den Händen einen Betonquader. „Ich
       kann das zeitlich nicht, muss dann aber trotzdem die Hand heben.“
       Kreistagssitzungen mit 25 Tagesordnungspunkten oder mehr seien eine
       Zumutung. Und so verließ Landwirt Rainer Tietböhl den Kreistag. Fortan sind
       dort nur noch zwei Bauern vertreten – in einem Kreis, der von
       Landwirtschaft dominiert wird.
       
       „Das tat mir persönlich eigentlich leid“, gibt Tietböhl zu. Man müsse für
       das „Territorium“ etwas bewegen. Seine Befürchtung: Demmin mit seinen
       11.000 Einwohnern hoch oben im Norden des Großkreises könnte übersehen
       werden – oder überstimmt. 47 Sitze gab es im alten Kreistag, der Landrat
       saß in der Stadt. Heute sitzt er eine Autostunde entfernt in
       Neubrandenburg, der Altkreis Demmin hat rund ein Dutzend Sitze im Kreistag.
       Der Einfluss schwindet, die Energie zur Mitarbeit auch.
       
       Draußen drehen sich träge die Windräder, die Wintersaat ruht unterm Schnee,
       die Peene fließt so langsam wie Lethe in der Unterwelt dahin. Das
       Vergessenwerden macht Tietböhl zu schaffen. Überhaupt fehle die Nähe, klagt
       er. Früher sei der Landrat persönlich vorbeigekommen, wenn es Probleme gab.
       Heute laufe alles übers Telefon. „Die Menschen wollen doch auch mal was zum
       Anfassen haben“, ruft er und scheint dabei ein Pferd zu tätscheln. Es
       klingt wie ein Schamanismus. Monarchien funktionieren so, Wahlkämpfe auch.
       
       Apropos anfassen – ganz versunken ist die Peenestadt noch nicht. Demnächst
       werden hier Landräte, Schweriner Minister und Honoratioren dutzendweise
       zusammenkommen, als wär’s eine Nutztierschau. Kreistagsmitglieder natürlich
       auch. Aber das ist völlig unwichtig. Wichtig ist Angela Merkel, die einmal
       im Jahr Demmin beehrt und am Politischen Aschermittwoch der CDU Volksreden
       hält. Das wäre nach Tietböhls Geschmack. Schade, dass er in der SPD ist.
       
       27 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gerlach
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