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       # taz.de -- Debatte Langzeitarbeitslosigkeit: Ein großer Plan für Billigjobs
       
       > SPD und Grüne haben ein neues Beschäftigungsmodell für
       > Langzeitarbeitslose vorgeschlagen. Aber wichtige Fragen wie Lohnhöhe und
       > Freiwilligkeit sind nicht geregelt.
       
   IMG Bild: Warten diese Menschen auf den „echten sozialen Arbeitsmarkt“?
       
       Im Oktober waren noch viele überrascht, als sich der Paritätische
       Wohlfahrtsverband mit dem FDP-Abgeordneten Pascal Kober zusammentat, um ein
       neues Beschäftigungsmodell für Langzeitarbeitslose vorzuschlagen.
       Inzwischen haben aber SPD und Grüne in enger Kooperation mit
       Beschäftigungsfirmen und Verbänden ein ähnliches Konzept für 200.000
       Langzeitarbeitslose entwickelt – einen „echten sozialen Arbeitsmarkt“.
       Beide Parteien brachten inzwischen entsprechende Anträge in den Bundestag
       ein.
       
       Alles klingt zunächst recht harmlos: Ganz freiwillig, existenzsichernd
       bezahlt und möglichst langfristig soll Langzeitarbeitslosen am ersten
       Arbeitsmarkt eine Beschäftigung verschafft werden. Der Bundestag
       debattierte im November über die Anträge, zu später Stunde, aber auf hohem
       Niveau. Langzeitarbeitslose seien die Verlierer der gegenwärtigen
       Arbeitsmarktpolitik, hieß es bei SPD und Grünen. Verhaltene Sympathie für
       die Anträge bekundete selbst die CDU.
       
       Professor Stefan Sell, der das Modell entwickelt hat, schwärmt von einer
       „multiplen Win-win-Situation“, bei der für die Betroffenen ein normales,
       nicht stigmatisierendes Beschäftigungsverhältnis herausspringe. Für die
       Vermittlung in die Jobs sollen die Kriterien „Zusätzlichkeit“ zum ersten
       Arbeitsmarkt und „Gemeinnützigkeit“ wegfallen, die als Voraussetzungen die
       bisherige Förderpolitik von ABM bis zu 1-Euro-Jobs und Bürgerarbeit geprägt
       haben. Sie waren in der Praxis nur schwer einzuhalten.
       
       Vor allem der Personalabbau bei öffentlichen und sozialen Dienstleistungen
       förderte den missbräuchlichen Einsatz von 1-Euro-Jobbern – ihre Arbeit war
       dann nicht „zusätzlich“, sondern Ersatz für die bisherigen Stellen.
       
       ## Die Entrechtung von Arbeitslosen ignoriert
       
       Hier setzt auch die Überlegung von Sell an, der in den Beschränkungen eine
       „Lebenslüge“ der bisherigen Förderphilosophie sieht. Als Konsequenz fordert
       er die völlige Umstellung der Förderung auf marktnahe Tätigkeiten. Damit
       sich private Firmen nicht über einen Verdrängungswettbewerb beschweren
       können, soll nicht mehr nur im gemeinnützigen Bereich gefördert werden,
       sondern ebenso im privatwirtschaftlichen.
       
       Die große Schwäche von Sells Idee liegt darin, dass er zwar eine richtige
       Kritik an den Auswüchsen der Beschäftigungsförderung entwickelt, bei der
       Lösung des Problems aber weder die entrechtete Position der
       Hartz-IV-Bezieher berücksichtigt noch dem massiven Stellenabbau im ersten
       Arbeitsmarkt etwas entgegensetzen will. Im Gegenteil, er kapituliert vor
       dieser Entwicklung. Er fordert, die öffentlich geförderte Beschäftigung
       müsse „einen Ersatz für einen Teil von dem stellen, was wegrationalisiert
       worden ist“.
       
       Wenn das Einsatzgebiet nicht mehr beschränkt ist, muss zwangsläufig die
       Zielgruppe beschränkt werden, um die sicher zu erwartenden Kosten und
       Mitnahmeeffekte einigermaßen in Grenzen zu halten. Der geplanten Förderung
       geht deshalb die Bewertung der Arbeitslosen voraus: ihres Grades als
       „Minderleister“.
       
       Um die Höhe des Lohnzuschusses, den „individuellen
       Minderleistungsausgleich“, zu bestimmen, will die SPD „die eingeschränkte
       Leistungsfähigkeit der Geförderten“ prüfen lassen. Die Grünen wollen dazu
       ein Verfahren etablieren, „wie es sich zum Beispiel bei Leistungen des
       Nachteilsausgleichs für Schwerbehinderte bewährt hat“. Dazu soll auch der
       psychologische Dienst der Arbeitsagentur herangezogen werden.
       
       ## Auswahl nach Defiziten
       
       Zwar muss die Zielgruppe mindestens 24 Monate Arbeitslosigkeit vorweisen,
       aber Fachleute wissen aus der Statistik, dass das nicht besonders
       „unproduktive“ Menschen sein müssen, sondern sich unter ihnen viele über
       50-Jährige oder Personen aus abgelegenen Regionen befinden. Zusätzlich
       sollen sie zwei Vermittlungshemmnisse haben. Als solche gelten aber schon
       Faktoren wie Alter, Familienbindung oder Migrationshintergrund, was über
       ihre Leistungsfähigkeit ebenfalls nichts aussagen muss.
       
       Hinzu kommt ein psychologisches Gutachten, das etwa einen Mangel an
       Frustrationstoleranz oder Anpassungsfähigkeit festhält – und schon ist der
       „Minderleister“ identifiziert. Eine Win-win-Situation ist das vielleicht
       für Behörden, Gutachter, Verbände und Arbeitgeber, aber kaum für die
       Betroffenen. Schließlich folgt diese Auswahl immer einem Defizitansatz.
       Eine Person muss zunächst weit abgewertet werden, bevor sie in den „Genuss“
       der Förderung kommt.
       
       Die Freiwilligkeit der Teilnahme an diesen Maßnahmen wird zwar von beiden
       Parteien versprochen. SPD und Grüne docken mit ihren Modellen aber an §16e
       SGB II an. Dieser Förderzuschuss ist wie alle Maßnahmen im SGB II nicht
       freiwillig, sondern sanktionsbewehrt. Das Gleiche gilt für das
       Vorprüfungsverfahren, in dem besonders intensive Arbeitsbemühungen
       gefordert werden.
       
       Die Freiwilligkeit müsste also ausdrücklich geregelt werden – und das
       geschieht weder im grünen Gesetzentwurf noch lässt die SPD erkennen, wie
       sie das regeln will. Es spricht deshalb viel dafür, dass das Versprechen
       von Freiwilligkeit der Beruhigung der Öffentlichkeit dienen soll, die sich
       erfahrungsgemäß, wenn die Programme erst angelaufen sind, nicht mehr dafür
       interessiert.
       
       ## Kein Rechtsanspruch auf nichts
       
       SPD wie Grüne kündigen auch an, dass annähernd Tariflohn oder ein
       Mindestlohn von 8,50 Euro gezahlt werden sollte. Aber ein Rechtsanspruch
       darauf ist nicht geregelt. Auch vor der Einführung der Bürgerarbeit wurde
       schon ein Tariflohn angekündigt – nur gezahlt wird er nirgendwo.
       
       Richtig ist, dass der Aufbau von zusätzlichen Stellen auf dem ersten
       Arbeitsmarkt notwendig ist. Aber diese Berufe müssen entwickelt,
       ausgebildet und regulär bezahlt werden – was etwas mehr Geld kostet, aber
       mehr selbstbewusste Bürger hinterlässt: Menschen, die wieder eine
       langfristige Berufsidentität und Berufserfahrung entwickeln können und
       nicht nach entwürdigenden Prozeduren Arbeit als Gnadenakt zugeteilt
       bekommen. Das lässt sich nicht von heute auf morgen wiedereinführen. Aber
       wer den Arbeitsplatzabbau durch 200.000 langfristige Fördermaßnahmen unter
       den unveränderten Bedingungen der Zumutbarkeit und Sanktionsdrohung
       verfestigt, versperrt diesen Weg auf lange Zeit.
       
       26 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helga Spindler
       
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