URI: 
       # taz.de -- Steven Spielbergs „Lincoln“: Wie ein konventionelles Biopic
       
       > Übersetzt den präsidialen Mythos der USA zurück in die Realgeschichte
       > kleinteiliger politischer Verfahren: Steven Spielbergs Film „Lincoln“.
       
   IMG Bild: Lagebesprechung mit Abraham Lincoln (Daniel Day Lewis) im US-Spielfilm „Lincoln“ von Steven Spielberg.
       
       Es knarzt und quietscht heftig im Weißen Haus anno 1865. Wenn der Hausherr
       spätabends durch die Flure streift, wird das temporäre Eigenheim der
       Lincolns zum historischen Klangkörper. Die abgetretenen Holzdielen atmen
       schwer, ungeölte Türknäufe leisten akustischen Widerstand, überall nur
       altehrwürdiges Mobiliar und funzeliges Gaslampenlicht. Die lebendige Physis
       eines institutionellen Gehäuses erzeugt Geschichte zum Anfassen und
       Einfühlen.
       
       Für die Betretbarkeit filmischer Geschichtsräume sind sorgfältig platzierte
       Details und das generelle haptische Design entscheidender als
       historiografische Perspektiven. Wenn es sich richtig anfühlt, wenn das
       Weiße Haus wie ein handgezimmertes, abgewohntes Gebäude klingt, keine Tür
       sich mit zu modernem Klickgeräusch öffnet, erscheinen auch die darin
       aufgeführten Handlungen unter der Signatur „historischer Akkuratesse“.
       
       Set- und Sounddesigner haben fraglos ganze Arbeit geleistet in Steven
       Spielbergs „Lincoln“, der kein Biopic sein will, aber dennoch in mehreren
       Szenen einen Privatmann am Kaminfeuer vorführt. Tagsüber ist das Haus
       randvoll mit Parteifreunden und Kabinettskollegen, abends wäre dann Quality
       time im Schaukelstuhl möglich, würde die nachgerade klassisch-freudianische
       Hysterie der Gattin nicht immerzu die erbauliche Lektüre stören.
       
       ## „Lincoln ist sexy“
       
       Das Drehbuch des Dramatikers Tony Kushner beruht auf Doris Kearns Goodwins
       Buch „Team of Rivals: The Political Genius of Abraham Lincoln“ (2005). Auch
       wenn „Honest Abe“ darin nicht als Heiliger, sondern mitunter als gewiefter
       Stratege erscheint – schon der Titel zeigt an, in welche Richtung ihre
       Interpretation geht. Es hätte also nicht des kuriosen Auftritts von Goodwin
       in der „Stephen Colbert Show“ bedurft, bei der sie den Gastgeber mit der
       Aussage irritierte, Lincoln sei nach ihrer Erkenntnis „sexy“ gewesen.
       
       Daniel Day-Lewis hätte das „Lincoln“-Projekt so gesehen auch in Kontinuität
       zu seiner Freidenker-Liebhaber-Rolle in der Kundera-Verfilmung „Die
       unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ anlegen können. Herausgekommen ist
       aber eher Vintage Day-Lewis, das Komplettprogramm an kauzigem Method
       Acting, wozu immer auch entsprechend lancierte Setgeschichten gehören, die
       Einblick in die großschauspielerische Willensinvestition geben sollen.
       
       Jared Harris, den meisten vermutlich als der unglückselige Engländer Lance
       Price aus „Mad Men“ bekannt, übernahm die dazugehörige PR-Aufgabe und
       verbreitete, dass er strikte Anweisung von Spielberg erhalten habe,
       Day-Lewis auch in Drehpausen nicht mit britischem Akzent zu adressieren. Da
       dieser durchgehend „in character“ bleiben müsse und den mühsam
       draufgeschafften Lincoln-Sound nicht durch Small Talk im Heimatidiom
       gefährden wolle, möge auch Harris nicht aus der Rolle des
       Unionisten-Lieutenants und späteren US-Präsidenten Ulysses S. Grant fallen.
       
       Was das alltagspraktisch bedeutete, hat Harris der ungläubigen New York
       Times erzählt: „You didn’t go up to him and say ,Hey did you see the
       Pirates game last night?‘ So we would sit there and joke about the
       Vicksburg campaign.“
       
       Wie immer man zu der damit verbundenen Idee von Schauspiel stehen mag –
       Day-Lewis stellt eine handwerklich perfekt durchgestaltete Figur in den
       Film: plastisch durch viele Kleinstmanierismen, mit einer interessant
       ausgedachten hohen Stimme (es existieren nur vage schriftliche Quellen, die
       Lincoln eine solche zuschreiben) und einer gespenstischen physiognomischen
       Mimikry.
       
       ## Kein Porträt, sondern politische Mikrostudie
       
       Der Ansatz von Kushner und Spielberg bestand erklärtermaßen darin, kein
       Porträt, kein lebensgeschichtliches Gesamtpanorama aufzublättern, sondern
       eine legislative Mikrostudie, die Lincoln als politischen Akteur zeigt, als
       Meister der Gesetzgebungsmechanik seiner Zeit.
       
       „Lincoln“ konzentriert sich auf die letzten vier Monate im Leben des 16.
       US-Präsidenten, lässt dabei aber dessen Ermordung am 15. April 1865 im Off
       stattfinden. Es soll um Politik als Prozess und charismatisch begründete
       Steuerung desselben gehen. Im Mittelpunkt steht, dramatisch aufgelöst in
       eine Serie aus politischen Vorder- und Hinterbühnenszenen, die
       Verabschiedung des 13. Verfassungszusatzes, mit dem schließlich Sklaverei
       und Zwangsarbeit verboten wurden. Spielbergs Lincoln ist nicht der
       Opportunist, der die Dringlichkeit des Abolitionismus noch 1864 nicht oder
       nur kriegsstrategisch erkennen wollte, sondern ein belesener Politiker, der
       aus moralischer Einsicht handelt.
       
       Leichter anerkennen lässt sich Lincolns Gespür für die Bedeutsamkeit eines
       historischen „window of opportunity“. Weil er glaubte, die bereits 1863
       verabschiedete „Emancipation Proclamation“ könnte nach Ende des
       Bürgerkrieges als nur an den Status quo des Kriegsrechts gekoppelte
       Direktive gegenstandlos werden, wollte er die letzten Wochen vor der sich
       deutlich abzeichnenden Kapitulation der konföderierten Armee nutzen, um
       eine dauerhaft verbindliche Gesetzeslage zu schaffen – bevor die
       Südstaatenvertreter in den Kongress zurückkehren und sich die
       Mehrheitsverhältnisse entsprechend ungünstig verschieben würden.
       
       ## Legislativkrimi mit Nebenrollen
       
       Aus dieser zeitsensiblen Konstellation generiert Kushner eine enorm
       effektive Drehbuchmechanik, deren Spannungsdynamik auch aushält, dass quasi
       jede politische Diskussion auf abschließende Lincoln-Pointen zuläuft. Zum
       Legislativkrimi gehören in Nebenrollen: zwielichtige Tölpel, die mit
       Bestechungsorder ausgesandt werden, radikale wie konservative Republikaner,
       die von den Vorzügen geschlossener Fraktionsbildung zu überzeugen sind. Die
       eigentliche Abstimmung inszeniert Spielberg dann wie ein Courtroom-Drama,
       bei dem am Ende nur ein letzter Zeuge zur Vernunft kommen muss, damit die
       Wahrheit siegt.
       
       „Lincoln“ gibt vor, den präsidialen Mythos in die Realgeschichte
       kleinteiliger politischer Verfahren rückzuübersetzen, läuft aber auf das
       genaue Gegenteil hinaus. Die Legitimität und Vernünftigkeit des
       demokratischen Prozesses wird hier nur von der Strahlkraft der
       hierarchischen Spitze her beseelt. In den dunklen Innenräumen, in denen das
       Kabinett tagt, ist Lincoln denn auch der einzige, den Spielberg immer
       wieder ans Fenster treten lässt, um seine ikonische Silhouette aus den
       Niederungen der Realpolitik abzuziehen.
       
       Die Emanzipation erscheint dabei so eindimensional wie in längst obsoleten
       Geschichtsmodellen: Ganz allein Produkt der humanen Geste eines großen
       weißen Mannes, der auch noch Märtyrer genug ist, sich der Behäbigkeit
       demokratischer Institutionen auszusetzen. Wenig verweist in diesem Narrativ
       auf die faktische Komplexität des gesellschaftlichen Prozesses.
       
       ## Kein Bild des versklavten Amerika
       
       Kein einziges Bild widmet „Lincoln“ der historischen Realität des
       versklavten Amerika. Nicht ein einziger Satz in diesem so wortreichen Film
       spricht von Selbstermächtigung. Nur eine Szene deutet an, dass sich die
       ausgebeuteten Afroamerikaner auch selbst befreit haben: Sie zeigt zwei
       afroamerikanische Union-Soldaten, die zu Lincolns Vergnügen die Gettysburg
       Address zitieren. Selbstständige Worte finden sie nicht, von der
       politischen Klugheit ihrer eigenen Antisklavenbewegung keine Spur wie auch
       von den (Klassen-)Kämpfen vieler lokaler Plantagenaufstände.
       
       Gleich zu Beginn blickt Lincoln versonnen auf Fotoglasplatten, die
       Sklavenkinder zeigen. Damit ist ein Muster vorgegeben: Bilder kindlicher
       Unmündigkeit, Repräsentationen abwesender Subjekte treffen auf die
       vorgeblich kalkülfreie Güte eines fürsorglichen Vaterblicks. Wäre „Lincoln“
       ein konventionelles Biopic, hätte der Mythos kaum heller strahlen können.
       
       „Lincoln“. Regie: Steven Spielberg. Mit Daniel Day-Lewis, Sally Field,
       David Strathairn u. v. a., USA 2012, 150 Min.
       
       23 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simon Rothöler
       
       ## TAGS
       
   DIR Steven Spielberg
   DIR Abraham Lincoln
   DIR Bürgerkrieg
   DIR Kino
   DIR Spielfilm
   DIR Steven Spielberg
   DIR Film
   DIR Sklaverei
   DIR New York
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Geschichtsdrama „Bridge of Spies“: Die Vorzüge amerikanischer Tugenden
       
       Showdown auf der Glienicker Brücke: In „Bridge of Spies“ erweckt Steven
       Spielberg einen Agentenaustausch aus dem Jahr 1961 zum Leben.
       
   DIR Film über die „Königin der Herzen“: Mit Perücke in den Jazzclub
       
       Der Wunsch nach Romantik und das Protokoll politischer Daten vertragen sich
       schlecht in „Diana“ von Oliver Hirschbiegel.
       
   DIR Sklaverei-Footprint: Ausbeutung durch Alltagskonsum
       
       Mehr als 27 Millionen Menschen leben weltweit in Sklaverei. Eine Kampagne
       zeigt jetzt, wieviel Ausbeutung hinter dem steckt, was wir täglich nutzen
       und verbrauchen.
       
   DIR Kolumne Bridge & Tunnel: Roth New York Bar
       
       Hauser & Wirth eröffnen eine zweite Dependance in den Räumen der legendären
       Disco Roxy.
       
   DIR Steven Spielbergs "Gefährten": Ein Kumpel zum Pferdestehlen
       
       Wenn Tierliebe zu weit geht: Steven Spielberg scheitert bei seinem Film
       "Gefährten" an der Darstellung einer innigen Zweierbeziehung zwischen einem
       Jungen und einem Pferd.
       
   DIR Spielberg verfilmt "Tim und Struppi": Nicht Mann, nicht Kind
       
       Der Comic-Klassiker des Belgiers Hergé, "Tim & Struppi", kommt auf die
       Kinoleinwand. Steven Spielberg macht mit seinem Film eine liebevolle Reise
       in die Vergangenheit.