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       # taz.de -- Deutsch-französische Freundschaft: „Die Toilette Europas“
       
       > Den Franzosen erscheint es deutsch, den Deutschen französisch: Das
       > Elsass. Viele Bewohner sehen ihre doppelte Kultur heute positiv.
       
   IMG Bild: Deutschlernen im Elsass: Lehrerin Esther Herzog-Coutellier bringt Vorschulkindern Zahlen bei.
       
       MULHOUSE taz | „Haben alle ihre Mathehefte rausgeholt?“, ruft Laetitia
       Blaison und blickt streng in die Klasse. „Amélie, Lazar, Alban! Hört auf zu
       quatschen!“ Die Elfjährigen kramen in ihren Schulranzen, die mit rosa Ponys
       oder japanischen Mangafiguren verziert sind. „Heute machen wir mit Brüchen
       weiter“, sagt die resolute junge Lehrerin. „Punaise!“, schimpft einer ihrer
       Schüler und blättert widerwillig in seinem Heft.
       
       Es ist eine ganz normale Klasse, die sich in der nächsten halben Stunde mit
       Nennern und Zählern, dem Addieren und Multiplizieren von Brüchen
       beschäftigen wird. Auffällig ist bloß, dass die Lehrerin mit ihren Schülern
       Deutsch spricht und die Schüler untereinander überwiegend Französisch
       reden. Wenn Sie aufgerufen werden, antworten sie auf Deutsch.
       
       „Wir nehmen diesen Bruch, und dann müssen wir da Zähler und Nenner
       tauschen“, erklärt ein Junge an der Tafel etwas holprig. Dabei ist er eher
       auf das mathematische Problem konzentriert als auf die richtige Wortwahl.
       
       Laetitia Blaison leitet die ABCM-Schule im elsässischen Mulhouse, eine der
       ersten Schulen, die seit Anfang der 1990er Jahre in der Grenzregion
       zwischen Frankreich und Deutschland zweisprachigen Unterricht anbieten. Es
       war nicht leicht, die Behörden dafür zu gewinnen. Seit dem Ende des Zweiten
       Weltkriegs war die deutsche Sprache in der Region verpönt. Heute besinnen
       sich mehr und mehr Elsässer auf die Vorteile der Zweisprachigkeit.
       
       ## „Die Toilette Europas“
       
       Die Region zwischen Schwarzwald und Vogesen hatte es nie leicht mit ihrer
       Identität – und mit ihren Sprachen. Am Ende des Mittelalters war das Elsass
       deutsch geprägt. Straßburg hatte sich zu einem bedeutenden Zentrum des
       Buchdrucks entwickelt. 1609 erschien in Straßburg die erste gedruckte
       Zeitung auf Deutsch. Die Reformation Martin Luthers und die
       deutschsprachigen Bibellesungen verbreiteten sich schnell im Elsass.“
       
       Während des Dreißigjährigen Krieges wandte sich das Elsass dann zunehmend
       Frankreich zu. Die Französische Revolution verstärkte diese Tendenz. Die
       französische Nationalhymne wurde in Straßburg verfasst. Selbst Napoleon
       Bonaparte störte es wenig, dass seine elsässischen Offiziere kein
       Französisch sprachen: „Sollen sie ruhig Deutsch reden, Hauptsache, sie
       führen den Säbel wie Franzosen.“
       
       Der elsässische Künstler Tomi Ungerer nannte seine Heimat einmal die
       „Toilette Europas“. Immer sei es besetzt. Tatsächlich wechselte das Elsass
       seit Ende des 19. Jahrhunderts viermal die Staatszugehörigkeit: Nach der
       Niederlage Frankreichs 1870/71 fiel die Region an das Deutsche Reich. Am
       Ende des Ersten Weltkriegs gehörte sie zu Frankreich. 1940 annektierte
       Deutschland das Elsass, und seit 1944 ist es wieder französisch.
       
       Heute sitzt das Elsass zwischen den Stühlen: den Franzosen erscheint es
       deutsch, den Deutschen französisch. Viele sehen die doppelte Kultur aber
       auch positiv: Das Elsass als Bindeglied zwischen Frankreich und
       Deutschland.
       
       ## Komplizierte Geschichte
       
       Aufgrund der komplizierten Geschichte gelten im Elsass heute zahlreiche
       Sonderregelungen. So wird etwa im Unterschied zum restlichen Frankreich an
       den Schulen Religion unterrichtet. Und es gibt eben auch Schulen, in denen
       die Hälfte des Unterrichts auf Deutsch stattfindet.
       
       „Viele Elsässer bedauern heute, dass die Region ihre Zweisprachigkeit
       verliert“, sagt Karine Sarbacher, die ebenfalls an der ABCM-Schule in
       Mulhouse unterrichtet. „Sie wollen, dass ihre Kinder zweisprachig
       aufwachsen, nicht zuletzt, um ihnen später gute Chancen auf dem
       Arbeitsmarkt zu eröffnen.“
       
       Während in Frankreich die Arbeitslosenquote derzeit bei etwa 10 Prozent
       liegt, gibt es jenseits der Grenze freie Stellen. In Baden-Württemberg oder
       in der Schweiz erwarten die Arbeitgeber, dass die Bewerber Deutsch
       sprechen. Ein Grund mehr, sich auf die historische Zweisprachigkeit
       zurückzubesinnen.
       
       ## „Es waren unsere Feine“
       
       In der Vorschulklasse von Esther Herzog-Coutellier herrscht lebhaftes
       Getümmel. Die Drei- bis Fünfjährigen kommen mit roten Backen und kalten
       Fingern vom verschneiten Pausenhof herein. „Charlène setzt sich neben
       Théodore. Jacques, du setzt dich hierhin.“ Die aus Freiburg stammende
       Lehrerin spricht in normaler Geschwindigkeit mit den Kindern. Die meisten
       von ihnen können bisher nur ein paar Worte Deutsch, verstehen aber schnell,
       was die Lehrerin von ihnen will.
       
       „Wir machen keinen klassischen Sprachunterricht. Wir wollen, dass die
       Kinder die Sprache auf natürliche Weise erlernen, dass sie in ein Sprachbad
       eintauchen“, sagt Herzog-Coutellier. „Es ist wichtig, dass jede
       Bezugsperson in ihrer Sprache bleibt“, sagt sie. Deswegen habe jede Klasse
       eine frankofone und eine deutschsprachige Lehrerin. „Wenn mich ein Schüler
       auf Französisch anspricht, dann sage ich ’Wie bitte?‘ – und dann versucht
       er es noch mal auf Deutsch.“
       
       Henri Goetschy, ehemaliger Präsident des Generalrats des Départements
       Haut-Rhin, zählt zu den langjährigen Förderern der zweisprachigen Schulen
       im Elsass. Der 86-Jährige erinnert sich noch gut an die Zeit, als seine
       Heimat 1940 von den Deutschen annektiert wurde. „Es waren unsere Feinde,
       obwohl sie dieselbe Sprache hatten wie wir“, sagt Goetschy, dessen Familie
       elsässischen Dialekt sprach.
       
       ## Deutsche Beschimpfungen
       
       „Mit dem Militär ging es noch. Schlimm wurde es, als die Partei kam“,
       erzählt der alte Herr. „Wir wurden gezwungen, in die Hitlerjugend
       einzutreten. Dort hat man uns vor allem beigebracht, blind zu gehorchen und
       uns anschreien zu lassen.“ Manche deutschen Beschimpfungen sind ihm bis
       heute im Gedächtnis geblieben: „Was stehst du herum wie ein in die Luft
       geschissenes Fragezeichen?“
       
       Goetschy traf in dieser Zeit aber auch auf Deutsche, die nicht von der
       Ideologie der Nazis infiziert waren. „Als die Juden aus Altkirch deportiert
       wurden, kam unser deutscher Lehrer in die Klasse und sagte: ’Nach dem, was
       in Altkirch passiert ist, schäme ich mich, Deutscher zu sein. Ich bin nicht
       in der Lage, heute Unterricht zu machen.‘ “
       
       Da die Deutschen das Elsass nicht nur – wie den nördlichen Teil Frankreichs
       – besetzten, sondern annektierten, wurden die jungen Männer auch zum
       Reichsarbeitsdienst herangezogen und von der Wehrmacht oder Waffen-SS
       rekrutiert.
       
       ## Sie waren Befreier
       
       „Malgré-nous“, wörtlich: gegen unseren Willen, nannten sich die
       Zwangsrekrutierten später selbst. Die meisten von ihnen wurden an der
       Ostfront eingesetzt. Von den etwa 130.000 Elsässern und Lothringern in der
       deutschen Armee kam etwa jeder Dritte ums Leben. Diejenigen, die in ihre
       Heimat zurückkehrten, trafen dort häufig auf Misstrauen, da man sie der
       Kollaboration mit den deutschen Nazis verdächtigte.
       
       „Ich habe Kriegsabitur gemacht und bekam dann den Einberufungsbefehl“,
       erzählt Goetschy, der in seinen Erinnerungen häufig zwischen Französisch
       und Deutsch wechselt. Dem damals 18-Jährigen gelang jedoch die Flucht, er
       konnte sich drei Monate lang verstecken, bis die Franzosen schließlich das
       Elsass zurückeroberten.
       
       „Die Franzosen kamen als unsere Befreier. Und dann haben sie als Erstes
       deutsche Zeitungen und deutschen Schulunterricht verboten“, erinnert sich
       Goetschy. „Das hat sich erst gebessert, als Europa allmählich
       zusammenwuchs.“
       
       Der Krieg habe ihn zum überzeugten Europäer gemacht, sagt Goetschy, der
       sich in seiner politischen Laufbahn in der Region intensiv für die die
       deutsch-französische Freundschaft eingesetzt hat. „Man hat uns nach dem
       Krieg oft vorgeworfen, die Sprache des Feindes zu sprechen. Aber das ist
       doch Unsinn. Unsere Zweisprachigkeit ist ein riesiger Vorteil, den wir
       pflegen müssen“, meint er.
       
       Heute gehen etwa sieben Prozent aller Grundschüler auf eine
       deutsch-französische Schule. Die Kleinen finden sich schnell in der Sprache
       zurecht, auch wenn ihre Eltern sie nicht sprechen. „Viele können aber
       plötzlich mit ihren Großeltern Deutsch reden. Und die sind sehr glücklich
       darüber“, sagt Lehrerin Karine Sarbacher.
       
       22 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Koltermann
       
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