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       # taz.de -- Fleisch aus Massentierhaltung: Ein Siegel für mehr Stallfläche
       
       > Ein neues Siegel für artgerechter erzeugtes Fleisch soll die Verbraucher
       > überzeugen. Der Tierschutzbund kooperiert dafür mit Großkonzernen.
       
   IMG Bild: Ein frisches, ganzes Hähnchen kostet mit Siegel 30 Prozent mehr
       
       WIETZENDORF taz | Die Mastschweine in Christoph Beckers Stall im
       niedersächsischen Wietzendorf haben ein Drittel mehr Platz als gesetzlich
       vorgeschrieben und allgemein üblich: 1,1 Quadratmeter pro Tier. Außerdem
       schützt eine durchgehende Betonplatte die geruchsempfindlichen Tiere in
       einer Hälfte des Stalls vor dem Fäkaliengestank aus den Güllekanälen unter
       dem Boden. Aus einem Metallrohr hinten links in der Box können die Schweine
       mit dem Maul Strohpellets ziehen, damit sie beschäftigt sind und sich aus
       Langeweile nicht gegenseitig verletzen. Die männlichen Tiere sind nicht
       oder nur unter Betäubung kastriert.
       
       All das sind Kriterien des Siegels „Mehr Tierschutz“ des Deutschen
       Tierschutzbundes, das die Organisation am Mittwoch kurz vor der weltgrößten
       Agrarmesse Grüne Woche in Berlin präsentiert. Denn in diesen Tagen kommt
       das erste Schweine- und Hühnerfleisch mit dem blau-weißen Siegel in die
       Läden – darunter bei so großen Firmen wie Lidl, Netto oder Kaiser’s
       Tengelmann. Einer dieser Lieferanten ist Bauer Becker.
       
       Das Siegel knüpft an Bedenken gegen eine Agrarindustrie an, die Tiere nach
       Meinung vieler Verbraucher mehr Leid zufügt, als es für die Erzeugung von
       Fleisch-, Eier- und Milchprodukten nötig ist. 77 Prozent der Konsumenten
       würden einer Umfrage zufolge Fleisch aus artgerechter Haltung bevorzugen,
       berichtet der Schlachthauskonzern Vion, der einen Teil seiner Produkte mit
       dem neuen Siegel auszeichnen lässt.
       
       Umweltschützer versprechen sich neben mehr Tierschutz auch, dass die Preise
       steigen und deshalb Fleischkonsum und -produktion abnehmen. Das würde
       helfen, den Treibhausgas-Ausstoß für den Futteranbau zu senken. Zudem
       könnten die Kalorien in Soja und Getreide mehr Menschen ernähren, wenn die
       Ernte direkt gegessen und nicht erst an Tiere verfüttert würde.
       
       Tatsächlich ist das Fleisch mit dem Tierschutzlabel erheblich teurer: Wer
       weniger Tiere in seinem Stall unterbringt, kann auch weniger verkaufen und
       muss das durch höhere Preise ausgleichen.
       
       In der Hühnermast schreibt das Siegel zudem langsamer wachsende Tierrassen
       vor. Denn konventionelle Geflügelarten setzen so schnell Fleisch an, dass
       das Skelettwachstum nicht mehr nachkommt und die Tiere ständig unter
       Schmerzen leiden. Und ein Huhn, das länger lebt, frisst auch mehr teures
       Futter.
       
       „Ein frisches ganzes Hähnchen kostet den Verbraucher etwa 4,79 bis 4,99
       Euro pro Kilogramm – rund 30 Prozent mehr als ein konventionelles“, sagt
       Josef Bachmeier, Manager bei Deutschlands größtem
       Geflügelfleischlieferanten Wiesenhof, der 28 seiner Farmen vom
       Tierschutzbund zertifizieren lässt. Für Hähnchenteile wie etwa Brustfilets
       würden sogar 40 bis 70 Prozent mehr fällig.
       
       Doch das ist immer noch billiger als ein Hähnchen, das nach der
       EU-Bio-Verordnung oder den Regeln des Neuland-Programms mit ihren noch
       strengeren Tierschutzauflagen gehalten worden ist. Bei Bio etwa beträgt der
       Preisaufschlag gegenüber einem ganzen Hähnchen aus normaler Produktion
       satte 150 Prozent. Branchenexperten halten die Differenz für eine der
       Ursachen, weshalb das artgerechter erzeugte Bio- und Neuland-Fleisch nur
       einen Marktanteil von etwa einem Prozent hat.
       
       Wegen dieser Marktlage, meint Thomas Schröder, Präsident des
       Tierschutzbundes, müsse Fleisch mit einem Label her, das billiger ist und
       von mehr Landwirten in den bestehenden Ställen erfüllt werden kann. Dafür
       ist er sogar bereit, mit so umstrittenen Konzernen wie Wiesenhof und Vion
       zusammenzuarbeiten, die in der Vergangenheit durch Tierquälerei aufgefallen
       sind. „Man muss das tun. Es gibt Strukturen, an denen wir nicht
       vorbeikommen, wenn wir die Lage nicht nur einzelner, sondern vieler Tiere
       verbessern wollen, sagte Schröder der taz.
       
       ## Schmerzhafter Kompromiss
       
       Dafür, dass der Absatz mit dem neuen Siegel höher wird, spricht einiges:
       Vion schätzt, dass in drei, vier Jahren 10 bis 15 Prozent des
       Schweinefleisches in deutschen Läden aus besonders tierfreundlicher Haltung
       kommen wird.
       
       Tatsächlich nehmen Discounter und die Supermarktkette Real nach eigenen
       Angaben schon jetzt bundesweit „Mehr Tierschutz“-Produkte ins Sortiment
       auf. Dabei sind auch Filialen in Baden-Württemberg, Berlin und Brandenburg
       der Ketten Edeka und Reichelt. Schon bald könnten weitere Läden folgen.
       Diese Erfolgsaussichten unterscheiden das Label auch etwa von dem
       „Tierschutz kontrolliert“-Siegel der kleineren Organisation „Vier Pfoten“,
       das nur wenig bekannt ist.
       
       Für den erhofften Verkaufserfolg ist Schröder schmerzhafte Kompromisse
       eingegangen. Alle bisher gelabelten Produkte haben nur die niedrige
       Variante des Siegels – mit einem Stern. Von Auslauf ins Freie etwa können
       Ein-Stern-Tiere nur träumen. Zwar hat der Tierschutzbund auch eine
       anspruchsvollere Zwei-Sterne-Variante entworfen, die dem Bio- und
       Neulandstandard ähnelt. Sie verlangt zum Beispiel vier Quadratmeter Platz
       im Freien für jedes Huhn. Aber sowohl Vion als auch Wiesenhof räumen ein,
       dass sie diese Version noch nicht einmal anstreben.
       
       Bio-Bauern dagegen müssen ihren Tieren Auslauf gewähren. Deshalb
       kritisieren viele Ökos das neue Label. „Die Ein-Stern-Variante muss
       tatsächlich ein Einstieg bleiben, damit die Zwei-Sterne-Version schnell in
       die Breite kommt. Sonst wäre das Label nicht mehr als ein Mäntelchen über
       unhaltbare Zustände“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Bunds Ökologische
       Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), Felix Prinz zu Löwenstein.
       
       Ausdrücklich hebt er hervor, dass Bio-Tiere nur Futter bekommen dürfen, das
       ohne umweltschädliche Pestizide und Kunstdünger angebaut worden ist.
       
       „Mehr Tierschutz“-Bauer Becker hingegen kauft Futter aus konventioneller
       Landwirtschaft. Er verfüttert an seine Schweine sogar Soja, die meist aus
       Südamerika stammt – obwohl dort für Futterpflanzen-Felder Urwald gerodet
       wird. „Sonst“, sagt Becker, „wird das Fleisch viel teurer und der
       Verbraucher kauft es einfach nicht.“
       
       15 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jost Maurin
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