URI: 
       # taz.de -- Kommentar Organspende-Skandal: Handlungsunfähigkeit? Pah!
       
       > Die juristische Sachlage ist vertrackt. Eine Gesetzesreform gegen
       > Betrügereien bei Organstransplantationen ist längst überfällig.
       
       Erst erklären die Staatsanwaltschaften München und Regensburg im
       Transplantationsskandal ihre Handlungsunfähigkeit: Aufgrund einer
       „Strafbarkeitslücke“ könnten sie die manipulierenden Ärzte strafrechtlich
       vermutlich nicht belangen.
       
       Denn wie solle man nachweisen, dass ein Patient X genau und nur deswegen
       sterben musste, weil andernorts ein Patient Y dank gefälschter Laborwerte
       schneller ein Organ erhielt, als ihm eigentlich zustand? Eben. Das
       Strafrecht aber verlangt diese Kausalität, wenn es um Tötungsdelikte geht.
       So weit, so logisch. Und was passiert einen Tag später?
       
       Da gelingt es der Staatsanwaltschaft Braunschweig, einen Haftbefehl zu
       erwirken und einen dringend tatverdächtigen Arzt, der jahrelang an der
       Uniklinik Göttingen mit einem bemerkenswerten Ausmaß krimineller Energie
       Patientenakten gefälscht hatte, in U-Haft zu stecken. Handlungsunfähigkeit?
       Pah.
       
       ## Gefälschte Patientenakten
       
       Und dann ist dieser verdächtige Arzt auch noch derselbe Arzt, gegen den
       zufälligerweise auch die Staatsanwaltschaft Regensburg ermittelt. Weil er,
       bevor er nach Göttingen ging, in – richtig! – Regensburg mit einem
       bemerkenswerten Ausmaß krimineller Energie Patientenakten gefälscht hatte.
       Messen mit zweierlei Maß? Blindheit der Justiz vor den Göttern in weiß?
       
       Bestätigen sich hier wieder einmal die Vorurteile gegen die bayerischen
       Strafverfolgungsbehörden? Falsch. Ausnahmsweise ist den Bayern – zum
       jetzigen Erkenntnisstand jedenfalls - kein Vorwurf zu machen. Zur Ahndung
       von Taten wie den jetzt vorliegenden fehlen schlicht Paragrafen. Der
       Schachzug der Kollegen aus Braunschweig indes ist klug, überraschend und
       mutig – und vor allem: ein gewagtes juristisches Experiment.
       
       Die Braunschweiger verfolgen den Straftatbestand des vollendeten Totschlags
       – weil nicht nachweisbar – nicht weiter. Stattdessen konstruieren sie nun
       einen versuchten Totschlag. Der ist selbst dann strafbar, wenn es keine
       Toten gibt. Ein Beispiel: Wenn einer mit einer Waffe in eine Menschenmenge
       zielt, die Kugel aber nicht trifft, dann ist das versuchter Totschlag.
       
       Oder wenn er versucht, jemanden zu erschießen, aber die Waffe klemmt. Es
       geht also darum, dass jemand mit dem Wissen handelt, dass Menschen zu Tode
       kommen könnten und dies billigend in Kauf nimmt. Selbst kritische Juristen
       und Gutachter, die sich seit langem intensiv mit den Sauereien an den
       diversen Transplantationskliniken beschäftigen und nichts lieber täten, als
       verantwortliche Ärzte ins Gefängnis zu stecken, haben Zweifel, ob die
       Initiative der Braunschweiger Strafverfolger am Ende nicht nach hinten
       losgehen könnte.
       
       Denn es könnte einen Unterschied machen, ob einer auf Menschen zielt, aber
       nicht trifft. Oder ob er ihm völlig unbekannte Patienten auf der Warteliste
       potentiell gefährdete, verstreut über sieben europäische Staaten und im
       Nachhinein vermutlich nicht mehr zu identifizieren, indem er andere –
       ebenfalls kranke – Patienten bevorzugte und ihnen durch Daten-Manipulation
       schneller zu einem Organ verhalf.
       
       ## Akute Fluchtgefahr
       
       Den Braunschweiger Staatsanwälten aber blieb nichts anderes übrig, als
       diesen juristischen Versuch zumindest zu wagen, und zwar jetzt,
       unangekündigt und überraschend, und obwohl die Anklageschrift noch gar
       nicht fertig ist: Es bestand akute Fluchtgefahr.
       
       Und welchen Aufschrei hätte es wohl gegeben, wenn der beschuldigte Arzt
       sich einfach abgesetzt hätte? Auch deswegen verdient das Vorgehen der
       Braunschweiger Staatsanwaltschaft Respekt.
       
       Das alles darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass der Gesetzgeber
       handeln muss: Gebraucht wird ein Gesetz, das den Gefährdungstatbestand
       unter Strafe stellt. Diese Einsicht hat sich bereits parteiübergreifend bei
       vielen Politikern durchgesetzt. Selbst die Regierung hat sich unlängst
       bereit erklärt, zu prüfen, ob die Gesetzeslage verschärft werden sollte.
       Insofern besteht tatsächlich so etwas wie Hoffnung.
       
       13 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
   DIR Heike Haarhoff
       
       ## TAGS
       
   DIR Organspende-Skandal
   DIR Ärzte
   DIR Krankenhäuser
   DIR Totschlag
   DIR Organspende
   DIR Organspende
   DIR Transplantation
   DIR Transplantation
   DIR Deutsche Stiftung Organspende
   DIR Ärzte
   DIR Transplantation
   DIR Organspende-Skandal
   DIR Organspende-Skandal
   DIR Organspende
   DIR Organspende
   DIR Organspende-Skandal
   DIR Organspende
   DIR Organspende
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Organspendeskandal in München: Vom Chefarzt zum Praktikanten
       
       Das Klinikum Rechts der Isar kommt nicht zur Ruhe: ein zunächst geschasster
       Chefarzt soll demnächst wieder operieren dürfen.
       
   DIR Neue Kampagne für Organspende: Es gilt nun das Sechs-Augen-Prinzip
       
       Nach den Manipulationsvorwürfen bei Transplantationen: Gesundheitsminister
       Bahr will Vertrauen der Bürger zurückgewinnen.
       
   DIR Skandal um Transplantationen: Wer soll leben? Wer sterben?
       
       Die Frage, wer ein Spender-Organ erhält und wer nicht, kann nur der
       Gesetzgeber beantworten. Doch das Parlament weicht aus.
       
   DIR Skandale um Transplantationen: Ärzte erhalten Kündigung
       
       Die Unikliniken Leipzig und München ziehen Konsequenzen aus den
       Datenmanipulationen bei der Vergabe von Spenderlebern.
       
   DIR Mauschelei bei Organvergabe: Klinikchef droht mit Maulkorb
       
       Der Ärztliche Direktor am Klinikum rechts der Isar in München wusste von
       Organ-Manipulationen und schwieg. Jetzt droht er Kollegen mit dem
       Dienstrecht.
       
   DIR Ärzte und Korruption: Dank der Gesetzeslücke
       
       Bundesgesundheitsminister Bahr will gegen Bestechung bei Ärzten vorgehen.
       Auch die CSU fordert: Korrupten Medizinern müsse die Zulassung entzogen
       werden können.
       
   DIR Ärztepräsident über Korruption: „Das Ausmaß wird grob überzeichnet“
       
       Das Berufsrecht ist die beste Waffe gegen bestechliche Ärzte und
       manipulierende Transplanteure, sagt der Ärztepräsident Frank Ulrich
       Montgomerey.
       
   DIR Gesetz zu Organspenden: Justizministerium sieht keine Lücke
       
       Die Bundesjustizministerin gibt sich beim Strafrecht zu Organspenden
       zurückhaltend. Der Gesundheitsminister prüft eine Verschärfung.
       
   DIR Organspende-Skandal: Erster Arzt in Untersuchungshaft
       
       Einem Göttinger Mediziner wird versuchter Totschlag vorgeworfen und wurde
       deshalb festgenommen. Politiker fordern nun neue Reformen für das
       Strafrecht.
       
   DIR Organspendeskandal und Bayern: Strukturen werden geprüft
       
       Zwei von vier Kliniken, in denen Daten manipuliert wurden, liegen im
       Freistaat. Wissenschaftsminister Heubisch plant grundsätzliche
       Veränderungen.
       
   DIR Kommentar Organspende: Das perfekte Verbrechen
       
       Ärzte, die ihre Patienten auf der Warteliste hochrutschen ließen, bleiben
       wohl straffrei. Die Standesorganisation ist in der Pflicht, Demut zu
       zeigen.
       
   DIR Manipulation bei Organspende: Die Tücke der Strafbarkeitslücke
       
       Deutlich weniger Menschen sind bereit Organe zu spenden. Schuld ist die
       Manipulationen von Patientendaten. Trotzdem drohen den Ärzten keine
       Haftstrafen.
       
   DIR Zahl der Organspenden sinkt: „Das Vertrauen ist erschüttert“
       
       Im vergangenen Jahr ist die Zahl der gespendeten Organe von knapp 4.000 auf
       3.500 gesunken. Grund sind offenbar die Transplantationsskandale in der
       zweiten Jahreshälfte.
       
   DIR Organspende-Skandal: Weg mit den Transplantationszentren
       
       Eugen Brysch, Deutschlands oberster Patientenschützer, schlägt vor,
       Transplantationszentren dicht zu machen. Er fordert den Streit um
       Spenderorgane einzudämmen.