URI: 
       # taz.de -- Das Wort zum Sonntag: Nicht herzlos, nur vernünftig
       
       > Logik und Glaube waren schon immer zwei Paar Schuhe. Das zeigte sich
       > wieder in den letzten Tagen.
       
   IMG Bild: Aus einem Kinospot der Kältehilfe: Ein Obdachloser vor der Gedächtniskirche.
       
       Am 24. Dezember ging der Kolumnist in die Kirche. Nicht weil ihn sein
       Gewissen trieb – ihn lockten die Kantaten des Weihnachtsoratoriums,
       aufgeführt von einem kleinen, feinen Ensemble und mit einem bemerkenswerten
       Kinderchor. Bach geht einfach immer, und seine zauberhafte Polyfonie macht
       den wunderlichsten Text erträglich: Ich will dich mit Fleiß bewahren / Ich
       will dir / leben hier / dir will ich abfahren. 
       
       Genau vor dem Eingang der Charlottenburger Kirche kniete ein Obdachloser
       auf einem Stück Pappe, vor sich die Mütze. Er war da, als das Gottesvolk
       hineinströmte, und er war immer noch da, als es vom Schlusschor beschwingt
       wieder herauskam. Allein, die allermeisten ignorierten ihn. Das
       lodenbemäntelte, barbourbejackte Publikum strömte windkanalmäßig um ihn
       herum.
       
       Alle mal festhalten: Diese Leute waren nicht herzlos, sondern vernünftig.
       Ihnen war klar, dass dieser Bettler sehr strategisch versuchte, die
       Heiligabend-Rührseligkeit abzuschöpfen. Netter Versuch. Aber sollte man bei
       den vielen Armen in der Stadt sein Spendenbudget nicht ein bisschen
       streuen? Hatte man das nicht sogar gerade getan, am Sammelkörbchen der
       Gemeinde? Eben.
       
       So rational diese Kirchgänger handelten, so irrational und ideologisch
       verhält sich die Kirche selbst: Vor kurzem hat sie der Arzt- und
       Zahnarztpraxis für Obdachlose am Ostbahnhof den Mietvertrag gekündigt, zu
       Ende Juli. Denn die gemeinnützige MUT GmbH, die die Praxis betreibt und die
       Räume seit über einem Jahrzehnt von der evangelischen Kirche mietet, hatte
       aus Kostengründen einen neuen Praxisträger gesucht und mit dem
       Humanistischen Verband (HVD) auch gefunden. Nun wollte die MUT an den HVD
       untervermieten. Geht nicht, befanden die Evangelen: Atheisten und
       Kirchenfeinden geben wir kein Obdach, auch nicht mittelbar.
       
       Klingt beim ersten Hören noch halbwegs nachvollziehbar. Aber man lasse sich
       mal die Argumentation des Kirchensprechers auf der Zunge zergehen: Sein
       Arbeitgeber vermiete ja auch nicht an ein Bordell oder eine Waffenfabrik,
       sagte er der Berliner Zeitung. Und: „Es handelt sich um ein Gemeindehaus.
       An der Fassade prangt ein drei Meter großes Kreuz. Da sind die Maßstäbe für
       uns strenger als bei einer normalen Immobilie.“
       
       Logik und Glaube waren schon immer zwei Paar Schuhe. Auch in diesem Fall
       geht das Argument nicht nur haarscharf am Ziel vorbei: Es wäre ja, wenn
       überhaupt, für die Atheisten vom HVD eine freiwillig ertragene Zumutung,
       unter dem Kreuz zu arbeiten. Und wie war das eigentlich nochmal mit der
       Feindesliebe (Lk 6, 27)?
       
       Im Interesse der Obdachlosen, um die es hier ja eigentlich geht, ist eine
       derart zwanghafte Abgrenzung natürlich schon gar nicht. Bleibt zu hoffen,
       dass sich die Kirchenoberen doch noch auf die Bergpredigt besinnen und
       einlenken. Auf dass sich die Worte des Weihnachtsoratoriums bewahrheiten:
       Dies hat er alles uns getan, / sein groß Lieb zu zeigen an; / des freu sich
       alle Christenheit / und dank ihm des in Ewigkeit. / Kyrieleis.
       
       13 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prösser
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Halleluja: Ein Pfarrer verschwindet
       
       Das Berliner Erzbistum hat einen weiteren Ansprechpartner in Sachen
       Missbrauch berufen. Leider weiß die Kirche nicht, wie man Transparenz
       buchstabiert.
       
   DIR Kolumne Halleluja: Eine Butterfahrt der besonderen Art
       
       Demnächst wird der Kirchenaustritt in Berlin was kosten. Warum eigentlich?
       
   DIR Kolumne Halleluja: Heilige Pflöcke einrammen
       
       Die christlichen Konkurrenten planen Großes, um ihr ramponiertes Image
       aufpolieren. Mit üppigen Zuschüssen vom Staat darf gerechnet werden.
       
   DIR Berlin apart: Pappmaché und Plastik
       
       Der Potsdamer Platz ist ein trauriger Fall - selbst zu Berlinale-Zeiten,
       wenn hier Promis am laufenden Band antanzen.