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       # taz.de -- Eurokolumne: Politik lebt von Alternativen
       
       > Vier Herausforderungen warten auf den SPD-Kanzlerkandidaten. Bewältigt
       > Steinbrück diese, genießt er im Wahljahr einen Vorteil.
       
   IMG Bild: Steinbrück hat einen Horror vor Schönfärberei.
       
       Europapolitik ist vor allem Sache der Regierungschefin und in Deutschland
       mit dem Namen der Bundeskanzlerin verknüpft. Für ihren Herausforderer, den
       sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten, ist das eine Chance – wenn er die
       Herausforderungen bewältigt.
       
       Erstens: die Legitimität von politischen Positionsveränderungen offensiv
       vertreten. Zeigen, dass bei politischen Entscheidungen oft etwas
       herauskommt, was nicht gewollt war. Aus plausiblen Gründen: Jede
       Entscheidung enthält Vermutungen über die Zukunft und das Verhalten der
       vielen, die mitmachen müssen, damit eine Maßnahme gelingt. Sie können sich
       als trügerisch erweisen.
       
       Beispiel Steuerpolitik: Die Idee, dass Steuerminderungen für Vermögende
       Wachstum ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen, war vor zehn Jahren „in“.
       Viele Vermögende haben ihr Geld aber nicht in der produktiven Wirtschaft,
       sondern in Finanzgeschäften angelegt. Steinbrück hat daher Revisionen in
       Sachen Vermögensteuer angekündigt. Das war klug.
       
       Die Glaubwürdigkeit eines Politikers liegt nicht darin, dass er immer
       dasselbe sagt, sondern dass er begründet, warum er seine Position
       revidiert. Je mehr Steinbrück solche Begründungen liefert, desto mehr
       wachsen seine Chancen. Er kann sich dabei an Kants Maximen des Gemeinsinns
       orientieren (3. Maxime: „Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“).
       
       ## Zurückhaltung gegenüber „Visionen“
       
       Die Bundeskanzlerin ändert ihre Euro-Politik dauernd, ohne dies in der
       Sache zu begründen. Bisher schadet ihr das nicht, weil eine große Mehrheit
       der Kanzlerin persönlich glaubt. Je ehrlicher Steinbrück seine Politik
       begründet, umso mehr gerät auch die Kanzlerin unter Druck, sich politisch
       ehrlich zu machen. Das täte unserer Demokratie, die von Alternativen lebt,
       gut.
       
       Zweite Herausforderung: die eigene Zurückhaltung gegenüber „Visionen“, die
       für Europa begeistern können, zu überwinden. Steinbrück hat einen Horror
       vor Schönfärberei. Aber die ist für „Visionen“ nicht nötig. Im Gegenteil:
       Die meisten Bürgerinnen und Bürger wollen eine Verlässlichkeit, die sich
       aus langfristigen und begründeten europapolitischen Zielen ergibt. Wir
       brauchen sie selbst für die kleinsten Schritte, deren Richtung sich aus dem
       „Machbaren“ ja nicht von selbst ergibt.
       
       Die von der Bundeskanzlerin praktizierte Alternative dazu heißt, die
       kleinen Schritte „lösungsorientiert“ im Wesentlichen an den möglichen
       Folgen für die nächste Wahl auszurichten. Das damit verbundene Hinauszögern
       von Entscheidungen wird die Deutschen langfristig mehr als nötig belasten.
       
       Am Beispiel Griechenland: Wenn Deutschland die Integrität der Eurozone von
       vornherein entschieden verfolgt hätte, wäre die griechische Wirtschaft
       weniger geschrumpft und die Rettung billiger geworden. Die übergeordneten
       europapolitischen Ziele überzeugend zu begründen und zu zeigen, dass die
       Deutschen mit ihnen sogar ökonomisch besser fahren würden – darin liegen
       Herausforderung und Chance von Steinbrück.
       
       ## „Geteilte Souveränität“
       
       Dritte Herausforderung: strategisch eine demokratisch-parlamentarische
       politische Union anstelle der gegenwärtig von der Bundesregierung
       forcierten exekutiv-technokratischen voranzubringen. Der Weg könnte darin
       liegen, dass das EU-Parlament bei der Vorbereitung von EU- und nationalen
       Haushalten während des „Europäischen Semesters“ Vertreter der nationalen
       Parlamente einbezieht.
       
       Zusammen könnten sie zur Vorlage der EU-Kommission an Ministerrat und
       Europäischen Rat eine Stellungnahme formulieren. Mit dieser „geteilten
       Souveränität“ könnte zugleich die unbefriedigende Wahl zwischen
       Renationalisierung und europäischem Superstaat überwunden werden.
       Öffentliche Stellungnahmen von nationalen und Europa-Parlamentariern würden
       zu einer bürgernäheren Demokratisierung der Europäischen Union beitragen.
       
       Für den ehemaligen Finanzminister und Mann der Exekutive bedeutet dies
       möglicherweise eine Geduldsprobe. Aber mit einer solchen
       Parlamentarisierung der Europäischen Union zu werben würde sich für
       Deutschland, Europa und die Demokratie wahrhaftig lohnen!
       
       Und schließlich: bei Äußerungen über Einkommen auch die zweite kantsche
       Maxime des Gemeinsinns beachten: „An der Stelle jedes anderen denken“ –
       etwa derer, die sehr wenig verdienen. „Selbstdenken“ (die erste Maxime)
       beherzigt er sowieso. Peer Steinbrück ist intelligent und analytisch genug,
       diese Herausforderungen in einen strategischen Vorteil zu verwandeln.
       
       4 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gesine Schwan
       
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